Vom zu Unrecht Verurteilten zum Anwalt der Unschuldigen: Die unglaubliche Reise des Isaac Wright Jr.

Die Geschichte von Isaac Wright Jr. ist vielleicht eine der spannendsten und gütekräftigsten unserer Zeit: vom Musikproduzenten zum lebenslang Inhaftierten, vom Gefangenen zum Anwalt – und schließlich zum Hoffnungsträger für Unschuldige im ganzen Land.

In drei Teilen begleiten wir Wright Jr. bei seiner außergewöhnlichen Reise durch die Abgründe und Möglichkeiten des US-amerikanischen Rechtssystems. Wir erleben die nachhaltige Wirkmacht von Güte da, wo persönliche Entwicklung auch hinter Gefängnismauern ermöglicht wird, wo die Judikative sich selbst hinterfragt und schließlich Fehler offenlegt und korrigiert.

Wer ist der Mann, der trotz aller Widrigkeiten den Staat mit juristischen Mitteln zu einem gerechteren und versöhnlicheren transformierte?

Teil 1: Gefangen im Netz der Justiz

„Ich war ganz oben“, sagte Isaac Wright Jr. 2020 in einem Interview, als er auf seine eindrucksvolle Lebensgeschichte zurückblickte. „Ich hatte ein unabhängiges Plattenlabel, war verheiratet – mein Leben lief gut. Dann wurde alles auf den Kopf gestellt.“

Geboren 1962 in Orlando, Florida, verbrachte Wright seine Kindheit und Jugend an vielen verschiedenen Orten – unter anderem verschlug es seine Familie Ende der 60er auch zeitweise nach Bremerhaven an der deutschen Nordseeküste. Sein Vater war Soldat, die Familie zog dem Militärdienst hinterher. Zur Highschool ging Wright später in South Carolina.

Auf der Überholspur

In seinen Zwanzigern begann er in der Unterhaltungsbranche Fuß zu fassen. Zunächst trat er mit dem Tanztrio Uptown Express in der Fernsehsendung Star Search auf, einer populären US-Castingshow, die damals als Sprungbrett für Nachwuchstalente galt. Auch wenn der Auftritt nur wenige Wochen dauerte, öffnete er Wright die Tür zur Musikindustrie.

Kurz darauf gründete er sein eigenes Label, X-Press Records, und wurde Mitbegründer der Girlgroup The Cover Girls, deren Freestyle-Sound in den Clubs von New York und Miami gut ankam. Mit dabei: seine damalige Partnerin Sunshine, mit der er eine kleine Tochter hatte.

Gemeinsam managten sie die Gruppe, organisierten Auftritte, produzierten Musik. Der aufstrebende Musikunternehmer bewegte sich zunehmend sicherer in der Branche und baute auch Verbindungen zur aufkommenden Hip-Hop-Szene auf – unter anderem arbeitete er zeitweise mit Run-DMC zusammen. Es waren die Jahre, in denen vieles möglich schien – bevor alles plötzlich aus dem Ruder lief.

Schock und tiefer Fall

Ein einzelner Tag im Jahr 1989 und alles, was Isaac Wright Jr. sich aufgebaut hatte, zerbrach. Statt im Tonstudio landete er in einer Zelle. Statt mit Künstlern und Künstlerinnen an Hits zu feilen, saß er plötzlich mit Bandenmitgliedern und Gewalttätern hinter Gittern. Die Anklage: „Anführen eines Drogenhandelnetzwerks, Besitz von Kokain mit Vertriebsabsicht, Betreiben einer Produktionsstätte für Betäubungsmittel und Anstiftung zum Drogenhandel“. Das Urteil: „schuldig in allen Punkten der Anklage“. Die Folge: eine Freiheitsstrafe von mindestens 72 Jahren mit einer Bewährungsfrist von 30 Jahren.

Ein krasses Urteil, obwohl die Beweislage im besten Fall dünn war. Im Rahmen einer großangelegten Polizeiaktion in New Jersey wurde Wright Jr. am 25. Juli 1989 verhaftet. Die Festnahme war der Höhepunkt einer neunmonatigen Ermittlung mit dem Codenamen „Operation Bundle Man“, die von Staatsanwalt Nicholas Bissell Jr. geleitet wurde. Insgesamt wurden an diesem Tag elf Personen verhaftet. Die Ermittlungsbehörden warfen Wright Jr. vor, das Oberhaupt eines angeblich 20 Millionen Dollar schweren Kokainrings zu sein, der täglich etwa 3.000 Fläschchen Kokain in Somerset und Middlesex County verkauft habe.

Die Anklage stützte sich auf das sogenannte Kingpin-Gesetz, das 1986 eingeführt wurde, um gezielt Kingpins, also die Drahtzieher:innen krimineller Organisationen, zur Rechenschaft zu ziehen. Zuvor hatten sich Anführer:innen oft hinter ihren Mittelsleuten versteckt, während diese allein die strafrechtlichen Konsequenzen trugen. Das Gesetz sollte genau das ändern. In der Praxis jedoch wurde es zunehmend auch gegen Personen angewandt, ohne dass belastbare Beweise für ihre Führungsrolle vorlagen.

So auch im Fall Wright Jr. Es gab keine Drogenfunde, keine Überwachungsvideos, keine auffälligen Kontobewegungen. Stattdessen stützte sich die Staatsanwaltschaft auf Aussagen Mitangeklagter, denen im Gegenzug für eine Belastung Wright Jr.s Strafmilderung angeboten wurde.

Die Konstruktion eines Täters

Zwei Jahre saß Wright Jr. in Untersuchungshaft. Zwei Jahre Unsicherheit, Isolation und das Warten auf einen Prozess. Im Frühjahr 1991 war es so weit. Die Verhandlung dauerte nur wenige Wochen, das Urteil fiel extrem hart aus.

Den Ausschlag gab die Aussage des Kronzeugen Roberto Alexander. Er behauptete, Wright Jr. habe ein halbes Kilogramm Kokain von ihm erhalten. Dieses sollte innerhalb von zwei Wochen verkauft werden, Alexander sollte 3.000 Dollar dafür bekommen. Kurz nach der Übergabe auf offener Straße sei die Polizei eingeschritten und habe beide festgenommen. 

Doch diese Geschichte war frei erfunden. Alexander hatte sich – wie auch andere Zeug:innen – unter Druck auf einen Deal mit der Staatsanwaltschaft eingelassen. Im Gegenzug machten sie belastende Aussagen gegen Wright Jr., um ihre eigene Strafe zu verringern. Jahre später widerriefen mehrere von ihnen ihre Aussagen.

„Da oben waren Leute, von denen ich keine Ahnung hatte, wer sie waren. Ich hatte sie noch nie in meinem Leben gesehen, und sie zeigten mit dem Finger auf mich und sagten, ich sei ihr Boss“, erinnerte sich Wright Jr. im Jahr 2020 an die Verhandlung gegen ihn.

Richter Leonard Arnold bezeichnete das Vorgehen der Strafverfolgung schließlich als massiven Verstoß gegen die Grundprinzipien der Gerechtigkeit. Doch zu diesem Zeitpunkt saß Wright bereits mehrere Jahre lang hinter Gittern – ohne Aussicht, jemals wieder freizukommen.

Systemfehler mit System

Was Wright Jr. widerfuhr, war und ist bis heute in den USA kein Einzelfall. Es ist Ausdruck eines Justizsystems, das auf Schuldsprüche optimiert ist – nicht auf Gerechtigkeit. Staatsanwält:innen werden an ihrer Erfolgsquote gemessen, also an der Zahl der Verurteilungen. Wer sich keine private Verteidigung leisten kann, muss sich auf staatlich bestellte Pflichtverteidiger:innen verlassen. Doch diese sind meist überlastet, unterbezahlt und haben kaum Zeit, sich gründlich vorzubereiten.

Besonders brisant: In den meisten Strafprozessen entscheiden Laien-Jurys – zwölf Bürger:innen ohne juristische Ausbildung. Sie müssen oft auf Basis lückenhafter Informationen ein Urteil fällen. Wer da nicht gut vertreten ist, verliert schnell den Zugang zur eigenen Geschichte.

In diesem Umfeld sind sogenannte Plea Bargains der Normalfall: Deals, bei denen Angeklagte im Gegenzug für ein Geständnis eine mildere Strafe erhalten. Etwa 90 Prozent aller Strafverfahren in den USA enden so – auch bei Unschuldigen, die aus Angst vor drakonischen Mindeststrafen ein falsches Geständnis ablegen.

Isaac Wright Jr. jedoch schlug einen Deal aus. Er wusste, dass er unschuldig war, und vertraute auf die Gerechtigkeit. „Ich bin kein Kingpin. Ich habe das nicht getan. Ich werde niemanden dafür bezahlen, mich ins Gefängnis zu schicken.“ Damit blieb er sich selbst treu – auch wenn der Preis zunächst hoch zu sein schien.

„Ich traf mich mit dem Gefängnisdirektor und bot ihm an, die Rechtsbibliothek kostenlos zu leiten, da ich wusste, dass ich dadurch ständigen Zugang zu dem Raum und seinen Büchern haben würde. Damit öffneten sich mir alle Türen. Mein ganzes Leben – vom Frühstück bis zum Zapfenstreich – würde nun vom Recht bestimmt sein.“

Der Wendepunkt: Lernen im Innersten des Systems

Doch der wichtigste Kampf in Wright Jr.s Leben sollte nicht seine Gerichtsverhandlung bleiben. Im Gefängnis wurde es ihm ermöglicht, zu lernen und sich weiterzubilden, und diese Chance nutzte er: Er las juristische Texte, analysierte Präzedenzfälle und studierte Prozessrecht. Dabei kam ihm zugute, dass in den USA die meisten größeren Gefängnisse Bibliotheken haben. Das Gefängnis, in dem Wright Jr. saß, hatte sogar eine eigene Rechtsbibliothek. Und gleich in der Anfangszeit seiner Untersuchungshaft im Somerset County Jail bot sich ihm eine ganz besondere Gelegenheit, die er sofort beim Schopfe ergriff, wie er in seiner Biografie schildert:

„Als das Wetter kälter wurde und der erste Winter näher rückte, hatte ich endlich einmal Glück. Der Rechtsbibliothekar wurde versetzt, und das Gefängnis wollte niemanden für diese Arbeit bezahlen. Ich traf mich mit dem Gefängnisdirektor und bot ihm an, die Rechtsbibliothek kostenlos zu leiten, da ich wusste, dass ich dadurch ständigen Zugang zu dem Raum und seinen Büchern haben würde. Damit öffneten sich mir alle Türen, denn statt nur vereinzelte Stunden zu bekommen, hatte ich nun sieben Tage die Woche von morgens bis abends Zugang zur Bibliothek. Mein ganzes Leben – vom Frühstück bis zum Zapfenstreich – würde nun vom Recht bestimmt sein.“

Anfangs studierte Wright Jr. das Recht nur, um seine eigene Situation zu begreifen. Doch bald schon wandte er seine theoretischen Kenntnisse praktisch an und begann, sich selbst zu vertreten. Zu Beginn seiner regulären Haftstrafe im New Jersey State Prison schloss er sich dann der Inmate Legal Association an, einer juristischen Selbsthilfegruppe im Gefängnis, für die er als sogenannter Paralegal Mitinsassen bei Anträgen und Berufungen unterstützte. Seine Kollegen von der Association hatten ihn bereits bei seiner Ankunft erwartet, da sein Ruf ihm vorausgeeilt war.

„Es war ungewöhnlich, dass sich ein Angeklagter in einem so wichtigen Fall selbst vertrat, noch dazu gegen den Bezirksstaatsanwalt. Als mein Urteil gefällt wurde und sie erfuhren, dass ich nach Trenton kommen würde, bereiteten sich die Paralegals darauf vor, mich für ihr Team zu gewinnen.“

Hebel zur Gerechtigkeit für Isaac Wright Jr.

Bei seinem Selbststudium machte Wright Jr. schließlich eine entscheidende Entdeckung: Die Geschworenen in seinem Prozess waren nicht ordnungsgemäß darüber informiert worden, dass das Kingpin-Gesetz von New Jersey nur dann eine Verurteilung erlaubt, wenn eindeutig nachgewiesen wird, dass jemand eine führende Rolle im Drogenhandel innehatte. In der Praxis reichte es jedoch oft aus, dass Angeklagte nur lose mit einem Drogenring verbunden waren – unabhängig von einer tatsächlichen Führungsposition. So wurden auch Randfiguren oder Unschuldige wie Wright Jr. mit der Höchststrafe belegt.

Dieser Fund beflügelte ihn. Das Gesetz, das ihn abrupt und für Jahre von Sunshine und seiner kleinen Tochter getrennt hatte, das ihn seine Freund:innen und seine Karriere als Musikproduzent gekostet hatte, dieses Gesetz war angreifbar. Wright Jr. schwor sich, fortan gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen. Seine neue Erkenntnis sollte dabei zum juristischen Hebel werden, mit dem er nicht nur seine eigene Verurteilung, sondern bald auch das Kingpin-Gesetz selbst ins Wanken brachte.

Teil 1 endet hier. Doch der Weg von Isaac Wright Jr. vom juristischen Autodidakten zum Symbol eines längst überfälligen Systemwandels beginnt erst noch.

Wie er sich selbst befreite und das System von innen heraus zum Besseren veränderte, zeigt Teil 2 dieser Serie.

Beitragsbild von Jan Luca Rose


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