Kurve kriegen statt Jugendknast: Polizei in NRW beugt gezielt vor

Kurve kriegen wirkt und spart Geld.“ So werben Polizei und Sozialarbeiter:innen in NRW für ein einzigartiges Präventionsprojekt. In diesem Interview erzählen Kerstin Seiffert und Gregor Wienand, was Kurve kriegen so einzigartig macht und warum das Projekt so erfolgreich ist. 

Kurve kriegen ist ein Präventionsprojekt in Nordrhein-Westfalen, das jugendlichen Straftäter:innen eine Chance bietet. 

Es richtet sich an junge Menschen, die Gefahr laufen, in eine kriminelle Laufbahn abzurutschen. Polizei und Sozialarbeiter:innen arbeiten hier Hand in Hand. Die Polizei identifiziert gezielt Jugendliche, die auf dem Weg zum Intensivtäter sind und tritt dann in Kontakt mit pädagogischen Fachkräften. Diese kümmern sich um eine individuelle Betreuung der Jugendlichen. Bei Kurve kriegen geht es darum, einzelne Jugendliche zu unterstützen, um so auch die Kriminalitätsstatistik insgesamt positiv zu beeinflussen.

Kerstin Seiffert und Gregor Wienand aus Bonn erzählen vom Projekt Kurve kriegen. Seiffert arbeitet bei der Kriminalprävention der Bonner Polizei und ist bei der Initiative Kurve kriegen polizeiliche Ansprechpartnerin. Wienand ist Diplompsychologe und pädagogische Fachkraft beim Projekt Kurve kriegen

Wie Jugendliche die Kurve kriegen

Seiffert: Man muss sich das mal vorstellen: Ein Intensivstraftäter ist bis zu seinem 25. Lebensjahr verantwortlich für im Durchschnitt 100 Opfer. Der ist verantwortlich für einen gesamtgesellschaftlichen Folgeschaden von 1,7 Millionen Euro. Kurve kriegen ist 2011 angetreten, um Intensivtäter-Karrieren frühzeitig zu erkennen und frühzeitig abzubrechen. Und darin sind wir hoch erfolgreich. 

GNM: Wie wird das Projekt von den Jugendlichen und ihren Familien angenommen?

Wienand: Nur 10 bis 20 Prozent der aufgesuchten Familien verweigern die Zusammenarbeit. Also der Großteil macht mit, obwohl es freiwillig ist und die Mitwirkung von den Jugendlichen und der Familie erwartet wird. Das ist erst mal good news. Das ist ein toller Wert. Und wir als Pädagogen arbeiten auch so, dass wir die Familie nicht nach Aktenlage bewerten möchten, sondern im persönlichen Kontakt. 

GNM: Was geschieht beim persönlichen Kontakt? 

Wienand: Wir machen uns in der Familie ein persönliches Bild, welche Risikofaktoren vorliegen und welche Schutzfaktoren es gibt.

Konkret könnten Risikofaktoren sein: Der Teilnehmer geht nicht oder unregelmäßig in die Schule. Er hat Freunde, die selber auch Straftaten begehen. Vielleicht sind seine Eltern selbst in der Vergangenheit oder Gegenwart straffällig geworden. Er wohnt vielleicht in einem Wohnumfeld, das stark kriminalitätsbelastet ist. Das wären Risikofaktoren. Schutzfaktoren wären eine gute Eltern-Kind-Beziehung, eine Anbindung an einen Sportverein, vielleicht auch eine gute Beziehung zu dem einen oder anderen Lehrer. 

GNM: Und wie sieht die Hilfe für die Jugendlichen dann konkret aus?

Wienand: Dann ist das Ziel, Hilfemaßnahmen zu entwickeln und zu installieren, die Risikofaktoren minimieren. In Bezug auf Schutzfaktoren versuchen wir, die bestehenden Schutzfaktoren zu stärken und neue zu entwickeln. Wir versuchen, eine sinnvolle Freizeitgestaltung aufzubauen, unter anderem mithilfe von regionalen Sportvereinen, um den Jugendlichen Sinn und Beschäftigung zu geben und Ausgleich.

GNM:  Warum ist es so wichtig, dass die Zusammenarbeit mit den Jugendlichen so individuell gestaltet wird? 

Wienand: Weil wir der Überzeugung sind, dass die Ursachen individuell sind. Es gibt nicht den Grund, warum Jugendliche Straftaten begehen. Der Großteil der Jugendkriminalität braucht keine Intervention und hört von selbst wieder auf, weil er jugendtypisch ist und vorübergehend. Wir schauen nur auf die Fälle, wo sich aus den jugendtypischen, einmaligen oder seltenen Geschichten etwas entwickelt. Eine Regelmäßigkeit und auch eine Steigerung in der Vorgehensweise der Straftaten. 

GNM: Die enge Kooperation zwischen Polizei und pädagogischen Fachkräften ist bei Kurve kriegen einmalig in ganz Deutschland. Wie profitiert das Projekt davon?

Wienand: Wir bekommen tagesaktuell eine Rückmeldung von der Polizei, ob bei einem unserer Schützlinge eine erneute Auffälligkeit bei der Polizei vorgefallen ist oder nicht. Das ist das Besondere an Kurve kriegen. Das heißt, wir können sehr unmittelbar reagieren, falls wieder eine Straftat vorgefallen ist. Wir können aber auch bestärken und loben, wenn es einige Wochen oder Monate lang keine neuen Vorfälle gab.

GNM:  Was ist das Ziel des Projektes?

Wienand: Das Ziel von sozialer Arbeit ist immer, sich irgendwann überflüssig zu machen.

Dass die erlernten positiven Dinge fortgeführt werden, wenn der Helfer sich verabschiedet. Aber wir haben da viel Geduld. Kurve kriegen endet nicht nach zwei  oder drei Jahren, wenn die Hilfe noch notwendig ist. 

GNM:  Und macht sich die Hilfe irgendwann überflüssig?

Wienand: 80 Prozent der Teilnehmenden, die das Programm starten, halten durch. Das ist ein hoher Wert. 

Seiffert: 40 Prozent der Absolventen von Kurve kriegen begehen keine Straftaten mehr. Das finde ich schon enorm. Und bei den restlichen 60 Prozent der Absolventen sind die Straftaten um 50 Prozent reduziert. Insbesondere bei Gewalttaten. 

Kurve kriegen wächst – sogar über Landesgrenzen hinaus

Mittlerweile gibt es mehr als 1.400 Absolvent:innen in Nordrhein-Westfalen, die das Projekt erfolgreich durchlaufen haben. Manche von ihnen sind als Botschafter:innen oder bei Presseterminen für Kurve kriegen tätig. Sie wollen die positive Nachricht verbreiten: Sie haben die Kurve gekriegt, und das hat ihr Leben verändert. Wienand und Seiffert möchten mehr Aufmerksamkeit für Kurve kriegen schaffen, damit sich das Projekt weiter verbreitet – nicht nur in Deutschland. Laut NRW-Innenminister Herbert Reul ist Kurve kriegen ein internationales Leuchtturmprojekt. Schweden hat das Projekt aus NRW entdeckt und setzt es seit September 2023 in den Städten Södertälje, Linköping und Göteborg um. Dort heißt es Rätt Kurva, zu Deutsch: Richtige Kurve.

Beitragsbild von FounderTips via pexels


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