Wenn ein Staat Fehler einräumt: die unglaubliche Reise des Isaac Wright Jr. Teil 2

Die Geschichte von Isaac Wright Jr. ist vielleicht eine der spannendsten und gütekräftigsten unserer Zeit: vom Musikproduzenten zum lebenslang Inhaftierten, vom Gefangenen zum Anwalt – und schließlich zum Hoffnungsträger für Unschuldige im ganzen Land.

Teil 2 unserer dreiteiligen Serie zeigt, wie Isaac Wright Jr. mit juristischem Scharfsinn aus der Zelle heraus zentrale Schwachstellen seiner Anklage aufdeckte. Er entlarvte gefälschte Beweise und unzulässige Absprachen, brachte so systematische Fehler ans Licht und leitete die Wende in seinem Fall ein. Zugleich wurde sichtbar, dass auch das Justizsystem in der Lage ist, eigenes Fehlverhalten aufzudecken, zu korrigieren und sich von innen heraus zu erneuern.

Am Ende von Teil 1 hatte Isaac Wright Jr. bereits Unglaubliches erreicht: Er verwandelte sich vom Gefangenen zum juristischen Autodidakten und half Mitinsassen bei ihren Verfahren. Doch sein größtes Ziel stand noch aus – die Aufhebung seiner eigenen lebenslangen Strafe und der Beweis seiner Unschuld.

Teil 2: Der eigene Anwalt

„Die Jahre vergingen und verschmolzen miteinander, etwas, von dem ich keine Ahnung hatte, dass Jahre dazu in der Lage waren. Wenn man jung ist, nehmen sich die Jahre Zeit, entwickeln eine Identität, behaupten sich. Mit zunehmendem Alter gehen sie langsam ineinander über. Im Gefängnis türmen sie sich einfach übereinander und werden zu einem verschwommenen Fleck. Es war eine nervtötende Wiederholung jedes Tages, die selbst den stabilsten Menschen in den Wahnsinn treiben konnte.“

Mit diesen Worten beschreibt Isaac Wright Jr. in seiner Biografie „Marked for Life“ seine Tage im Gefängnis. Doch statt dem Wahnsinn zu verfallen, blieb er stets bei sich und arbeitete verbissen daran, die Wahrheit ans Licht zu bringen.

Denn er wusste, dass er unschuldig war. Von Anfang an bestritt Wright Jr. jegliche Beteiligung an einem Drogenring und forderte die Geschworenen auf, aus seiner Sicht offene Lücken in der Argumentation der Staatsanwaltschaft anzuerkennen. „Dieser gesamte Fall basiert auf einer Lüge – motiviert durch Eifersucht, Rachsucht und rassistische Selektivität“, sagte Wright Jr. damals. Doch bis er seine Unschuld beweisen konnte, war es ein langer und steiniger Weg, den er zu gehen hatte.

Durch sein Selbststudium im Gefängnis hatte er bereits früh herausgefunden, dass die Geschworenen in seinem Prozess nicht ordnungsgemäß über die Anforderungen des Kingpin-Gesetzes informiert worden waren. „Die Definition eines Kingpins im Strafgesetzbuch war eindeutig, aber die Anweisungen an die Geschworenen waren extrem allgemein gehalten. Gemäß den Anweisungen an die Geschworenen bezog sich der Begriff ‚Kingpin‘ auf jeden, der an einer Drogenverschwörung beteiligt war, sogar auf eine Gruppe von Süchtigen, die sich zum Verkauf von Drogen zusammentaten, um ihre eigene Sucht zu finanzieren“,

Doch weil sein Fall sehr im Fokus der Öffentlichkeit stand, zögerte Wright Jr., diese Entdeckung gleich für eine eigene Berufung zu nutzen. Er fürchtete, auf zu große Widerstände zu stoßen und schnell abgewiesen zu werden. Also legte er seine Theorie in die Schublade, widmete sich weiter seinen Studien und wartete auf den richtigen Augenblick, um sie auszuprobieren. Und das Warten machte sich bezahlt. Eines Tages stellte ihm ein Mithäftling, der als Rechtsassistent andere Insassen in juristischen Fragen beriet, Ryan Lee Alexander vor. Dieser war wie Wright Jr. als Kingpin verurteilt worden und hatte sich bereits entschieden, in Berufung zu gehen – was fehlte, war die richtige Strategie.

Kingpin-Gesetz: Härte als Schwäche, Fairness als Stärke

Wright Jr. hatte plötzlich die Gelegenheit, ein erstes Ausrufezeichen zu setzen. Doch Alexanders Pflichtverteidigermisstraute seinem Klienten, obwohl er anerkannte, dass dessen Theorie gut durchdacht war. Er konnte sich schlicht nicht vorstellen, dass Wright Jr. als Autodidakt die Idee und die darauf basierende Verteidigungsstrategie selbst formuliert hatte und lehnte es deshalb ab, sie zu übernehmen. Doch Wright Jr. blieb hartnäckig und überzeugte Alexander, sie selbst in einen ergänzenden Schriftsatz für seine Berufung aufzunehmen. Und siehe da: Die Strategie „schlug ein wie eine Lenkrakete.“

1994 ging Alexanders Berufung bis zum Obersten Gerichtshof des Bundesstaates, der seine lebenslange Haftstrafe aufhob, ihn aus dem Gefängnis entließ und infolgedessen ein neues Gesetz auf der Grundlage der Theorie schuf. Denn das Aufhebungsurteil der Berufungskammer stellte klar: Die Geschworenen hätten darauf hingewiesen werden müssen, dass die Beweislast, wonach der Angeklagte als „hochrangiges Mitglied“ eines organisierten Drogenhandelsnetzwerks fungierte, beim Staat lag.

Das bisherige Kingpin-Gesetz war im Kern auf Fairness angelegt, ließ aber zu viel Spielraum für Härte – ein Mangel, den erst das Aufhebungsurteil sichtbar machte und korrigierte. Rechtsanwalt Gilbert G. Miller, der später als stellvertretender Staatsanwalt mit der Berufung von Wright Jr. befasst war, äußerte sich beeindruckt zu seiner Beteiligung am Präzedenzfall Alexander: „Ich fand Herrn Wright äußerst intelligent und einen besseren Schriftsatzverfasser als die meisten Anwälte, denen ich begegnet bin. Am meisten beeindruckte mich Mr. Wrights Fähigkeit als Rechtsstratege.“

Unrecht und Schaden durch Machtmissbrauch

Obwohl Wright Jr. so seine lebenslange Haftstrafe durch die Kingpin-Verurteilung erfolgreich anfocht und die Berufungskammer von New Jersey sein Urteil ein Jahr später aufhob, verging bis zur finalen Bestätigung durch die höchste Instanz fast ein weiteres Jahr. Für eine Entlassung in die Freiheit reichte dies ohnehin nicht aus, da die zusätzlichen 70 Jahre Gefängnisstrafe, zu denen er wegen vermeintlicher weiterer Vergehen verurteilt worden war, bestehen blieben.

Wright Jr. war sich bewusst, dass der Beweis seiner Unschuld und eine Aufhebung aller Urteile erfordern würden, die illegalen Absprachen und fingierten Beweise aufzudecken, die zu seiner Verurteilung geführt hatten. Doch dazu brauchte er großes Fingerspitzengefühl, denn er hatte es mit professionellen Juristen zu tun, die genau wussten, was sie taten. Ihm gegenüber stand Nicholas L. Bissell Jr., der langjährige Staatsanwalt von Somerset County.

Dieser wurde häufig beschuldigt, seine Macht auszunutzen. Er machte keinen Hehl daraus, dass er in der Berufung am längeren Hebel saß. Über Jahre verweigerte er ihm Einsicht in seine Unterlagen, obwohl er diese der Verteidigung eigentlich gewähren musste.

Die Nadel im Heuhaufen

Im Juli 1995 wurde selbst für den angesehenen Staatsanwalt der Druck zu groß, er musste Wright Jr. entgegenkommen. Für einen Tag gewährte er diesem den Zugang zu allen Ermittlungsunterlagen. Einerseits eine einmalige Chance, anderseits auch ein unmögliches Unterfangen, angesichts der schieren Menge an Akten.

Doch Isaac Wright Jr. gelang an diesem schicksalhaften Tag das Unmögliche. Er fand die Nadel im Heuhaufen: In einer unscheinbaren Aktennotiz bestätigten die an seinem Fall beteiligten Detectives gegenüber dem Staatsanwalt, ihre Polizeiberichte gegenseitig gelesen zu haben. Vor Gericht hatten sie dies noch geleugnet. Wright Jr. war sofort klar, dass diese Information einen entscheidenden Vorteil bringen konnte.

Denn wenn ein:e Polizeibeamt:in A den Bericht von Kolleg:in B gelesen hat, darf die Verteidigung A vor Gericht zu den Inhalten und möglichen Widersprüchen in Bs Bericht befragen. Auf diese Weise kann sie die Glaubwürdigkeit von B infrage stellen, ohne B direkt vernehmen zu müssen.

Eine Strategie für Gerechtigkeit

Diese Aktennotiz würde „alle Lügen wie ein scharfes Messer durchschneiden“, war sich Wright Jr. sicher. Er müsste nur eine Schwachstelle in der falschen Beweiskette finden. Doch das war riskant, denn Wright Jr. rechnete fest damit, dass er nur eine einzige Chance haben würde. Er musste auf den Überraschungseffekt setzen.

Wochenlang erstellte er Profile aller Detectives, studierte sämtliche Berichte zu seinem und ähnlichen Fällen noch einmal minutiös und holte Infos von Mitinsassen ein, die selbst schon mit diesen Detectives zu tun gehabt hatten. „Ich untersuchte die Art und Weise, wie sie die Fakten darstellten, verglich die Diskrepanzen zwischen verschiedenen Versionen der Vorfälle und maß, wie leicht es ihnen fiel, zu lügen. Es war primitiv, aber ich arbeitete mit dem, was ich hatte, um eine fundierte Vermutung darüber anzustellen, wer am ehesten zusammenbrechen würde. Als ich fertig war, stach ein Polizist hervor: Detective James Dugan.“

Entscheidende Anhörung

1996 kam es zur entscheidenden Anhörung. Wright Jr. vertrat sich selbst und konfrontierte Dugan im Kreuzverhör mit Beweisen für systematisches Fehlverhalten. Unter Druck gesetzt gestand der Beamte, dass er Berichte gefälscht, Beweise manipuliert und Zeug:innen beeinflusst hatte. Dugans Geständnis, mit dem er selbst einer Gefängnisstrafe entging, brachte weitreichende und systematische Verfehlungen und Vertuschungen ans Licht.

Staatsanwalt Nicholas L. Bissell Jr. wurde als Drahtzieher dieses Fehlverhaltens identifiziert. Er hatte Polizeibeamt:innen aktiv angewiesen, ihre Berichte zu fälschen, während er persönlich die falschen Aussagen von Zeugen:innen gegen Wright Jr. diktierte. Zudem traf er geheime Absprachen mit der Strafverteidigung, damit deren Mandant:innen vor der Jury logen, Wright Jr. sei ihr Drogenboss. Dieses missbräuchliche und korrupte Vorgehen brachte dem Staat keinen Gewinn – aber es gab ihm die Chance, es künftig besser zu machen.

Das System reinigt sich von innen

Während Wright Jr. weiter um seine Freiheit kämpfte, zeigte der Staat die Fähigkeit zur Selbstkorrektur: Zwei zentrale Figuren seines Prozesses, Richter Imbriani und Staatsanwalt Bissell Jr., wurden selbst Teil von Ermittlungen und Sanktionen.

Imbriani, der Wright Jr. 1991 verurteilt hatte, verlor sein Amt, nachdem er der Unterschlagung und Steuerhinterziehung überführt worden war. Bei Bissell Jr. deckte eine bundesstaatliche Untersuchung neben dienstlichen Fehlern auch illegale persönliche Bereicherung und Betrug auf, was zur Anklage, Verurteilung und seinem Selbstmord auf der Flucht vor der Strafverfolgung führte.

Richter Leonard Arnold, Imbrianis Nachfolger am Obersten Gerichtshof von New Jersey, fasste später zusammen: „Dies ist ein Fall, in dem die höchsten Polizeibeamten dieses Countys das Verfassungsrecht offen missachtet haben.“

Doch der Staat übernahm Verantwortung, gestand Fehler ein und justierte das System nach – ein markanter Beleg für die Bereitschaft zur Kontrolle und Korrektur von Machtmissbrauch auch in den höchsten Reihen der Justiz.

Wette auf eine glorreiche Zukunft

Die Enthüllungen über systematische Fälschungen und Korruption erschütterten das gesamte Justizsystem von Somerset County. Für Wright Jr. war dies der entscheidende Wendepunkt. Im Mai 1996 sprach der Oberste Gerichtshof ihm das Recht auf ein neues Verfahren zu. Im Dezember desselben Jahres kam er erstmals gegen Kaution frei – mehr als sieben Jahre nach seiner Festnahme.

Obwohl Wright Jr. einen steinigen Pfad beschritt, erfuhr er auch immer wieder Unterstützung, fand selbst in einem scheinbar kranken System Menschlichkeit – angefangen bei der Möglichkeit, sich juristisch weiterzubilden und mit anderen zu vernetzen, über den Zugang zu Unterlagen seiner Gegner bis hin zu einer ganz konkreten Szene kurz vor seiner Freilassung:

Ein Wärter kam zu seiner Zelle und rang ihm das Versprechen ab, nicht wieder zurückzukommen, denn er und der gesamte Vollzugsdienst hätten auf ihn gewettet, schildert Wright Jr. die Situation.

„Ich verspreche Ihnen, dass ich nicht auf diese Seite zurückkommen werde. Aber vielleicht komme ich von draußen zurück, um in Ihr Büro zu kommen und etwas von dem Geld zu holen, das Sie gewonnen haben“, lautete seine Antwort, während er die Hand des Wärters schüttelte. Zu sich selbst sagte Wright Jr.: „Es war in einen Scherz und eine Wette verpackt, aber ich konnte erkennen, dass er an mich glaubte.“

Teil 2 endet hier. Doch Isaac Wright Juniors Reise war mit der Freilassung nicht abgeschlossen. Schon im Gefängnis hatte er begonnen, als juristischer Autodidakt
auf ein gütekräftigeres System hinzuarbeiten und anderen Gefangenen zu helfen.

Als Nächstes begleiten wir Wright Jr. beim Schritt in die Freiheit, die er sofort nutzt, um zum Verteidiger Unschuldiger zu werden und das Rechtssystem weiter zu reformieren.

Wie er damit endgültig zum Symbol für Gerechtigkeit wurde und warum seine Geschichte inzwischen sogar unter prominenter Beteiligung verfilmt wurde, erzählt Teil 3.

Beitragsbild: Jan Luca Rose


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