In politischen Debatten steht immer wieder die Behauptung im Raum, Menschen, die nach Deutschland einwandern, würden meist keine Bildungsabschlüsse haben. „Das ist Unsinn!“ und „Selbst, wenn es stimmte, wäre das nicht schlimm“, sagen Reinhard Wiesemann und Serdar Yüksel MdB, Vorsitzender und stellvertretender Vorsitzender der KräftigeGüteStiftung. Sie erklären, wie es tatsächlich um die Bildungsabschlüsse unter Migranten steht und weshalb auch die Aufnahme ungelernter Menschen eine gütekräftige politische Praxis ist.

REDAKTION: Serdar, du engagierst dich nicht nur als stellvertretender Vorsitzender der KräftigeGüteStiftung, sondern auch als Abgeordneter in deinem Wahlkreis Wattenscheid sowie im Parlament in Berlin für Menschen, die nach Deutschland einwandern – stimmen die Aussagen der AfD, dass unter Migranten in erster oder auch zweiter und dritter Generation kaum Fachkräfte zu finden sind?
SERDAR: Die Behauptung, unter Migrantinnen und Migranten gäbe es kaum Fachkräfte, ist schlicht falsch. Viele bringen Abschlüsse mit – und in zweiter oder dritter Generation sind sie längst Ärzte, Ingenieure, Handwerker oder Unternehmer.
Das Klischee vom ‚bildungsfernen Migranten‘ entspricht nicht der Realität. Es wird bewusst gestreut, um Ängste zu schüren, aber es widerspricht der Lebenswirklichkeit, die wir täglich erleben.
Der Querschnitt geflüchteter Menschen ist dabei genauso unterschiedlich wie alle anderen, wie unsere Gesellschaft auch.

„Das Klischee vom ‚bildungsfernen Migranten‘ entspricht nicht der Realität. Es wird bewusst gestreut, um Ängste zu schüren, aber es widerspricht der Lebenswirklichkeit.“

REDAKTION: Reinhard, als Vorsitzender der Stiftung sagst du, gerade diejenigen aufzunehmen, die keine höhere Schul- oder Fachausbildung haben, ist sehr gütekräftig. Erklär uns doch zu Anfang, was der Begriff „Gütekraft“ genau bedeutet.
REINHARD: „Wenn’s nicht mit Güte geht, dann eben mit Gewalt“ – das ist die verbreitete Sichtweise, die täglich zu schädlichen Handlungen führt und uns immer größere Probleme beschert.
Denn Gewalt täuscht Wirksamkeit nur vor, schafft aber in Wirklichkeit Feinde, Spannungen und Instabilität. Gewalt ist wie das Schmerzmittel, das symptomatisch Linderung schafft, aber die wahre Ursache unbehandelt lässt. Wenn die Polizei zum Beispiel mit einer Hundertschaft gegen wütende Demonstranten vorgeht, dann ist die Wut auf der Straße zunächst nicht mehr sichtbar, aber unter der Oberfläche ist sie stärker als je zuvor, findet sogar neue Unterstützer. Und sie wird sich immer wieder neu entladen, denn die Gewaltspirale ist im vollen Gang.
Güte dagegen ist eine völlig unterschätzte Alternative, mit der wir genauso wie mit Gewalt Ziele erreichen können. Aber sie hat keine schädlichen Nebenwirkungen, denn sie adressiert die Ursache eines Problems, schafft Verbündete und führt zu langfristig stabilen Verhältnissen. Wenn wir im Beispiel der wütenden Demonstranten bleiben, dann würde die Polizei das Gespräch mit den Demonstranten suchen, Absprachen treffen und auf Einhaltung des legalen Rahmens drängen. Dafür gibt es wunderbare Beispiele, wie das funktioniert – beide Seiten bekommen ihren Raum, aber es bleibt friedlich.
Güte ist eine völlig unterschätzte Alternative, mit der wir genauso wie mit Gewalt Ziele erreichen können. Aber sie hat keine schädlichen Nebenwirkungen, denn sie adressiert die Ursache eines Problems, schafft Verbündete und führt zu langfristig stabilen Verhältnissen.“
REDAKTION: Serdar hat bereits erläutert, dass ein Großteil der Einwanderer fachliche Qualifikationen mitbringt beziehungsweise sich diese im Lauf der Zeit hart erarbeitet – noch dazu in einer neuen Sprache. Aber was ist mit den anderen, die ja auch kommen? Sollte deutsche Migrationspolitik darauf abzielen, zum Beispiel nur studierte Menschen aufzunehmen?
REINHARD: Auf keinen Fall! Nehmen wir die AfD als Beispiel. In ihrem Wahlprogramm priorisiert die Partei die „kulturelle Identität Deutschlands“ und will nur begrenzt und nur qualifizierte Einwanderung erlauben. Doch Deutschland ist schon lange nicht mehr ausreichend attraktiv für Fachkräfte.
Wenn wir den AfD-Weg gehen würden, dann hätten wir viel zu geringe Einwanderungszahlen und angesichts der Überalterung unserer Bevölkerung würden Wirtschaft und Wohlstand schrumpfen.Wir sehen das jetzt schon, und wir müssen jetzt etwas dagegen tun.
Selbst wenn die Geburtenrate sofort ansteigen würde, es würde etwa 20 Jahre dauern, bis die neue Generation ausgebildet wäre. Doch zunächst unqualifizierte junge Einwanderer sind schon nach 5-10 Jahren in qualifizierten Berufen. Sie entwickeln eine tiefe Bindung zu Deutschland, und als Nebeneffekt entstehen für unser Land positive Beziehungen zu den Herkunftsländern.
Die Statistik der Arbeitsagentur bestätigt diese Sichtweise: „Die Erwerbstätigenquote der Syrerinnen und Syrer, die im Jahr 2015 nach Deutschland zugezogen sind, lag nach sieben Jahren Aufenthalt bei gut 60 Prozent, Tendenz steigend.“ Und neuere Zahlen zeigen, dass von den rund 1 Million Geflüchteten nach Assads Sturz nur 4.000 nach Syrien zurückgekehrt sind.
Würden wir dagegen Menschen erst in späterem Lebensalter als ausgebildete Fachkräfte aus anderen Ländern abwerben, dann füllt sich Deutschland mit Menschen, die eine viel schwächere Bindung zu uns haben, und wir beschädigen unsere Beziehungen zu den Herkunftsländern.
Was allerdings auch nicht verschwiegen werden darf: Wer wenig qualifizierte junge Menschen ins Land lässt, der erlebt darunter auch Halbstarke mit ihren typischen Problemen und leider auch einen gewissen Prozentsatz an Straftätern. Einen Preis zahlt man immer.
„Es ist nicht nur ein Akt der Humanität, Migranten willkommen zu heißen – es ist eine Frage der Vernunft und der Stabilität unserer Gesellschaft.“
REDAKTION: Serdar, du warst knapp 20 Jahre als Krankenpfleger tätig. Kannst du Reinhards Argumentation mit Beispielen aus dem Berufsalltag füllen?
SERDAR: Gerade auch als Vorsitzender der Arbeiterwohlfahrt, die Integrations- und Sprachkurse anbietet, und als Gesundheitspolitiker sehe ich jeden Tag, wie wichtig Zuwanderung ist.
Ohne die Menschen, die zu uns gekommen sind und hier als Fachkräfte arbeiten, wäre unser Gesundheitssystem schon längst zusammengebrochen. Viele von ihnen füllen Lücken, die wir allein nicht mehr schließen können. Es ist nicht nur ein Akt der Humanität, sie willkommen zu heißen – es ist eine Frage der Vernunft und der Stabilität unserer Gesellschaft.
REDAKTION: Wie wirksam sind aus deiner Erfahrung staatliche Programme, die bewusst zum Beispiel Pflegekräfte anwerben?
SERDAR: Natürlich brauchen wir Anwerbeprogramme im Ausland, etwa für Pflegekräfte. Aber noch entscheidender ist, dass wir diejenigen stärken, die bereits hier sind.
Wenn wir in Sprachkurse investieren, wenn wir die Anerkennung von Abschlüssen beschleunigen und echte Ausbildungsperspektiven schaffen, dann gewinnen wir gleich doppelt: Die Menschen können schnell auf eigenen Beinen stehen – und unsere Gesellschaft profitiert unmittelbar von ihren Fähigkeiten.
„Wer Straftätern mit Härte begegnet, erzeugt starke Bilder und Schlagzeilen, aber er bekämpft nur die Symptome.“
REDAKTION: Die KräftigeGüteStiftung spricht ganz gezielt etwa politische Akteure an, die Gesetze anstoßen oder Programme in diesem Sinne aufsetzen. Wie gelingt das und was gibt es bereits an Beispielen in der Migrationspolitik, die zeigen, dass Güte kräftiger ist als Härte und Strafen?
REINHARD: Gütekräftiges Handeln ist nicht nur moralisch überlegen, es ist auch effektiver und damit klüger. Deutschland hat sich 2015 höchst gütekräftig verhalten, und das hat uns schon heute vor zahlreichen Problemen bewahrt. Wenn wir nur die geringe Zahl qualifizierter Menschen ins Land gelassen hätten, die sich um Einwanderung bewerben, dann gäbe es in zahlreichen Bereichen unseres Lebens – auch in medizinischen und pflegerischen – einen noch größeren Personalnotstand, als wir ihn jetzt haben.
Und was den Umgang mit Straftätern angeht: In Deutschland sind wir sehr erfolgreich mit gütekräftigen, Resozialisierung betonenden Ansätzen. Wir haben zum Beispiel im Vergleich mit den viel mehr auf Härte setzenden USA nur 10 Prozent der Strafgefangenen. Auch die Mordrate ist in Deutschland um 80 Prozent geringer als in den USA.
Das Problem liegt in der Wahrnehmung: Wer Straftätern mit Härte begegnet, erzeugt starke Bilder und Schlagzeilen, aber er bekämpft nur die Symptome. Wer dagegen die Ursachen von Kriminalität bekämpft, wird als nachdenklich und schwach wahrgenommen, doch er beseitigt das Problem an der Wurzel.
REDAKTION: Serdar, du hast damals noch als Landtagsabgeordneter mit der Caritas die Initiative „Flüchtlingsdorf Ruhrgebiet“ ins Leben gerufen. Diese Entscheidung war nicht nur beliebt – hat sich diese politische Güte gelohnt?
SERDAR: Im Jahr 2015 habe ich das Flüchtlingsdorf Ruhrgebiet in Kurdistan/Nordirak mitinitiiert. Wir sind mit 100 Containern gestartet, heute leben dort fast 9.000 Menschen. Uns ging es nicht nur darum, Menschen vorübergehend unterzubringen, sondern ihnen eine echte Lebensperspektive zu geben.
Deshalb gibt es im Dorf Gewächshäuser, eine Bäckerei, Handwerker- und Ladenstraßen, ein Jugendzentrum, eine Bibliothek, ein Therapiezentrum, eine Zahnarztpraxis und sogar einen Sportplatz.
Damit ist ein Ort entstanden, der nicht nur Schutz bietet, sondern auch Bildung, Arbeit, Gemeinschaft und Hoffnung. Anfangs gab es viel Skepsis, aber heute zeigt sich: Wenn wir mit Güte handeln, entfaltet das eine enorme Kraft – Zweifel und Widerstände verlieren dagegen an Bedeutung.
REDAKTION: Die AfD hat in Sachsen-Anhalt mal gefordert, dass Kinder aus der Ukraine gesondert unterrichtet werden sollten. In Schulen nämlich, auf die ausschließlich ukrainische Kinder gehen und wo auf Ukrainisch unterrichtet werden sollte. So wollte man überforderte Lehrkräfte entlasten und dafür sorgen, dass die Menschen nach Ende des Krieges nicht in Deutschland bleiben würden.
„Wir können froh sein, dass so viele junge Menschen nach Deutschland kommen, die bei uns ausgebildet werden“
REINHARD: Ich verstehe nicht, wie man in einer Zeit des Personalnotstands in fast allen Branchen darüber nachdenken kann, junge Menschen aus Deutschland zu vertreiben. Wir brauchen Nachwuchs für die Babyboomer-Generation, und wir befinden uns in einem internationalen Wettbewerb um fähige, engagierte Menschen.
Wir können froh sein, dass so viele junge Menschen nach Deutschland kommen, die bei uns ausgebildet werden und hoffentlich so starke Bindungen an Deutschland entwickeln, dass sie bleiben. Und das geht natürlich nur, wenn die Kinder am Regelunterricht teilnehmen, sobald sie grundlegende Sprachkenntnisse haben.
„Integration funktioniert und bereichert unser Zusammenleben. Populismus hingegen bietet keine Lösungen – er verstärkt nur die Probleme und spaltet unsere Gesellschaft.“
REDAKTION: Wie gelingt es politisch, die Wähler und auch Parteikollegen oder Vorgesetzte von nachhaltiger Migrationspolitik zu überzeugen, die nicht nur populistisch an der Oberfläche kratzt, sondern wirklich gütekräftig ist?
SERDAR: Politisch überzeugt man Menschen nicht allein durch Appelle, sondern durch konkrete Erfolge, die im Alltag sichtbar werden: der syrische Jugendliche im Fußballverein, die afghanische Familie mit ihrem Café, der neue Nachbar, der als Pfleger oder Ärztin arbeitet.
Diese Geschichten zeigen, dass Integration funktioniert und unser Zusammenleben bereichert. Populismus hingegen bietet keine Lösungen – er verstärkt nur die Probleme und spaltet unsere Gesellschaft.
„Solange ein Großteil unserer Mitbürger daran glaubt, dass aktuelle Probleme mit Härte gelöst werden müssen, werden auch Politik und Verwaltung in diese Richtung tendieren.“
REDAKTION: Welche Projekte aus dem Bereich Migration und Migrationspolitik begleitet die KräftigeGüteStiftung aktuell und was ist als nächstes geplant?
REINHARD: Politik, Initiativen und Vereine sind Strukturen, in denen Menschen Meinungen vertreten, aktiv werden, und die wir von der Überlegenheit gütekräftigen Vorgehens überzeugen wollen. Migranten sind in diesen Strukturen noch unterrepräsentiert, deshalb kooperieren wir mit der neu gegründeten „Deutsch-Syrischen Initiative“ im Bereich gesellschaftliche Teilhabe.
Daneben nutzen wir Filme und andere öffentlichkeitswirksame Mittel, um Verständnis für Migranten zu fördern. Wir versuchen, zu der Vision eines höchst erfolgreich gütekräftig handelnden Staates beizutragen, der Win-win-Situationen für alle schafft.
Denn solange ein Großteil unserer Mitbürger daran glaubt, dass aktuelle Probleme mit Härte gelöst werden müssen, werden auch Politik und Verwaltung in diese Richtung tendieren. Um in dem anfangs erwähnten Beispiel zu bleiben: Die Polizei wird sich schwertun, gütekräftig auf wütende Demonstranten zuzugehen, wenn die Öffentlichkeit lautstark Härte fordert. Und auch an ihre Wiederwahl denkende Politiker stellen sich ungern gegen die öffentliche Meinung.
Ganz konkret sehen wir deshalb unsere Aufgabe darin, der Öffentlichkeit immer wieder die Überlegenheit gütekräftigen staatlichen Handelns zu erklären und an konkreten Beispielen zu belegen. Dazu trägt auch der Gütekraft-Preis bei, der in diesem Jahr zum ersten Mal verliehen wird. Und natürlich dieser Newsletter, in dem auf große und kleine Erfolge gütekräftigen Handelns staatlicher Machtträger hingewiesen wird.
„Was wir wirklich brauchen, ist eine neue Basis des friedlichen Zusammenlebens – getragen von einer positiven Vision unserer Gesellschaften.“
SERDAR: Wir erleben in unserem Staat und weltweit, dass die Fliehkräfte zunehmen und der gesellschaftliche Kitt zu bröckeln beginnt. Wer darauf mit Konfrontation, Härte und Abschottung reagiert, verschärft die Probleme nur.
Gewalt und Abgrenzung schaffen keine Zukunft. Was wir wirklich brauchen, ist eine neue Basis des friedlichen Zusammenlebens – getragen von einer positiven Vision unserer Gesellschaften.
Einer Vision, die nicht auf Gewalt baut, sondern auf Güte, Vertrauen und Respekt. Die Kraft der Güte bedeutet nicht Schwäche. Sie bedeutet, Konflikte nachhaltig zu lösen, statt sie zu verschärfen. Sie bedeutet, die Stärke in Menschlichkeit und Miteinander zu erkennen.
Nur wenn wir diese Haltung fest in unserer Politik und Gesellschaft verankern, können wir die Herausforderungen unserer Zeit gemeinsam bewältigen und in eine gute Zukunft gehen.
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