Norwegens Gefängnissystem setzt auf Vertrauen, Respekt und Resozialisierung. Die Gefängnisinsel Bastøy sticht besonders heraus. Sie beweist, dass Norwegens gütekräftiger Ansatz funktioniert.
Für das Haftsystem in Norwegen gilt der Grundsatz, dass der Freiheitsentzug die Strafe ist, nicht das Leben im Gefängnis. Der Strafvollzug in dem skandinavischen Land basiert auf einem Leitprinzip, das auf den ersten Blick überraschend wirkt: Normalität. Gefängnisse sollen nicht abgegrenzt von der Gesellschaft existieren, sondern ihr möglichst nahekommen. Gefangene kochen selbst, kümmern sich um ihre Wäsche, gehen arbeiten oder zur Schule und übernehmen Verantwortung. Denn auch wenn die Gefangenen ihre Freiheit verlieren, sollen ihre anderen sozialen Grundrechte so weit wie möglich erhalten bleiben.
So funktioniert Haft in Norwegen
In vielen europäischen Ländern gelten Gefängnisstrafen noch immer als Hauptinstrument der Strafverfolgung, selbst bei kleineren Delikten. Alternativen zur Haftstrafe werden zwar in Deutschland immer häufiger genutzt, ausgeschöpft sind die Optionen aber noch lange nicht.
Fast 40 Prozent aller Inhaftierten in Deutschland sitzen mit Freiheitsstrafen unter neun Monaten im Gefängnis. Dabei „wissen alle Vollzugspraktiker, dass man in der Zeit wenig verändern kann“, merkt Strafvollzugsexperte Bernd Maelike an.
In Norwegen wird das grundlegend anders angegangen. Dort folgt der Strafvollzug einem stufenweisen System mit dem ausdrücklichen Ziel der Resozialisierung.
„In Norwegen bleibt der Inhaftierte Staatsbürger. In Deutschland ist er dem besonderen Gewaltverhältnis des Staates unterworfen und wird zum Gefangenen.“
Wer in Norwegen zu kurzen Freiheitsstrafen verurteilt wird, etwa unter vier Monaten, verbüßt diese meist nicht im Gefängnis, sondern bleibt zu Hause unter elektronischer Überwachung, etwa mit einer Fußfessel. So verlieren Ersttäter:innen nicht ihr soziales und berufliches Umfeld. Für längere Haftstrafen beginnt der Vollzug meist in einer geschlossenen Anstalt.
Danach wechseln viele Gefangene in Einrichtungen mit weniger Sicherheitsvorkehrungen, wo sie mehr Eigenverantwortung übernehmen. Die letzte Phase sind sogenannte Halfway Houses, offene Einrichtungen, in denen die Häftlinge tagsüber arbeiten oder zur Schule gehen können.
Bastøy: Eine Insel der Resozialisierung
Ein Beispiel für diese Form des offenen Strafvollzugs ist die Gefängnisinsel Bastøy. Dorthin zu kommen, gilt aufgrund besonders guter Resozialisierungsmöglichkeiten als erstrebenswert und kann beispielsweise durch tadelloses Verhalten in einem anderen Gefängnis erreicht werden.
„Ich vertraue meinen Insassen. Das spüren sie vom ersten Tag an, wenn sie plötzlich ohne Handschellen alleine auf der Insel stehen und dieses Maß an Freiheit gar nicht mehr gewohnt sind.“
Bastøy befindet sich 75 Kilometer südlich von Oslo, im Oslofjord. Von den 115 Gefangenen dort sind viele wegen schwerer Verbrechen wie Gewalt-, Drogen- oder Sexualdelikten inhaftiert.
Die Gefangenen wohnen in Einzelzimmern mit eigenem Bad und Küchenzeile in Holzhäusern, kochen gemeinsam, arbeiten in der Landwirtschaft oder übernehmen für die Gemeinschaft Aufgaben im Inselalltag, etwa in der Küche oder beim Fährdienst. Die Miete für ihr Zimmer zahlen sie aus dem eigenen Einkommen. In der Freizeit können sie wandern, angeln oder Sport treiben. Auch der Kontakt zur Familie wird ermöglicht und gefördert. Gitter oder Handschellen gibt es nicht und die Sicherheitskräfte tragen weder Uniform noch Waffen.
Was auf den ersten Blick wie ein Feriendorf wirkt, ist Teil eines durchdachten Resozialisierungskonzepts.
„Es bringt nichts, Häftlinge in die schlechtmöglichste Umgebung zu setzen – das müssen wir der Öffentlichkeit noch besser vermitteln.“ Tom Eberhardt, Gefängnisdirektor in Bastøy
Statt Kontrolle steht Vertrauen im Mittelpunkt. Wer flieht, verliert seinen Platz auf der Insel und wird in ein strengeres Hochsicherheitsgefängnis zurückverlegt. Wärter:innen werden nicht als Kontrollinstanz eingesetzt, sondern als pädagogische Begleitung, die ein fester Bestandteil der Freizeitgestaltung und des Arbeitsalltags der Häftlinge ist.
Diese Form der engen, menschlichen Beziehung soll das Vertrauen stärken und gleichzeitig die Eigenverantwortung fördern. Damit das funktioniert, braucht es deutlich mehr Personal als in anderen Gefängnissen: Auf rund 260 Insassen kommen circa 230 Vollzugsbeamte. Das Ziel besteht darin, die Häftlinge auf ein Leben nach der Haft vorzubereiten – mit einem Fokus auf persönlicher Weiterentwicklung statt Bestrafung.
Ein System, das funktioniert
Die Zahlen sprechen für sich: Die Rückfallquote liegt in Norwegen bei unter 20 Prozent innerhalb von zwei Jahren, in Bastøy sogar bei nur 16 Prozent. In vielen anderen europäischen Staaten liegt sie hingegen zwischen 50 und 70 Prozent, in Deutschland bei etwa 46 Prozent innerhalb von drei Jahren. Gewalttätige Auseinandersetzungen oder gar Fluchtversuche gibt es laut dem Gefängnisdirektor von Bastøy fast gar nicht. Zu hoch sei das Risiko, wieder in ein Gefängnis mit strengeren Sicherheitsvorkehrungen verlegt zu werden und die hier gewährten Privilegien zu verlieren.
Ex-Häftlinge in Norwegen finden oft schnell wieder Arbeit und sind damit seltener auf Sozialleistungen angewiesen. Dass dies auf den Schwerpunkt auf Rehabilitation und Berufsausbildung in den Haftanstalten in Norwegen zurückzuführen ist, ist wissenschaftlich belegt.
Der gesellschaftliche Nutzen ist klar: weniger Rückfälle, geringere Folgekosten, mehr Integration. Kein Wunder also, dass Norwegens Haftsystem in Europa als vorbildhaft gilt.
Das norwegische Beispiel zeigt, dass ein humanerer Strafvollzug weder naiv noch unrealistisch ist. Er kann Sicherheit und Resozialisierung miteinander verbinden und so für die gesamte Gesellschaft wirken. Menschlichkeit im Strafvollzug ist keine Schwäche, sondern eine Stärke – und eine Option, die sich langfristig auszahlt.
Was wäre, wenn der Mensch im Grunde gar nicht egoistisch und grausam ist – sondern gut? Dieser rousseauschen Annahme widmet sich Rutger Bregman in seinem Buch „Im Grunde gut“. Mit zahlreichen Beispielen und Fakten zeigt er auf: Menschen entscheiden sich in der Regel aus eigener Motivation für gütiges und gegen gewaltvolles Handeln.
Die meisten Justizsysteme weltweit basieren auf der Annahme, dass wir nur durch Strafen auf den rechten Weg gebracht werden können. Polizeiarbeit basiert vielfach auf der Annahme, dass Kontrolle nötig ist, weil man den Menschen nicht trauen kann. Und in der Politik gilt Misstrauen fast schon als Grundhaltung – sei es bei Sicherheitsgesetzen oder im Umgang miteinander.
Genau hier setzt Rutger Bregman mit „Im Grunde gut“ an und widerspricht dieser Haltung. In Anlehnung an Jean-Jacques Rousseau wirft das Buch folgende Fragen auf: Was, wenn all diese Annahmen falsch sind? Was, wenn der Mensch im Kern nicht schlecht, sondern gut ist?
Dann wären Strafe, Kontrolle und Misstrauen an vielen Stellen völlig überflüssig.
„Es ist eine Idee, die Machthabern seit Jahrhunderten Angst einjagt, gegen die sich unzählige Religionen und Ideologien gewandt haben. […] Gleichzeitig ist es eine Idee, die von nahezu allen Wissenschaftsbereichen untermauert, die von der Evolution erhärtet und im Alltag bestätigt wird.“
„Im Grunde gut“ stellt die gewohnte, meist negative Sicht auf die Menschheit radikal auf den Kopf. Statt ständig vom „egoistischen“ oder „gewaltbereiten“ Menschen auszugehen, zeigt Bregman anhand vieler Beispiele aus Geschichte, Psychologie, Biologie und Alltagskultur: Kooperation, Vertrauen und Mitgefühl sind viel stärker, als wir denken.
In seinem Buch greift er Experimente, die die Boshaftigkeit des Menschen beweisen sollen, auf und hinterfragt ihre Korrektheit und Aussagekraft. Dazu gehören etwa das Milgram-Experiment, das zeigen soll, dass Menschen unter Autorität bereit sind, anderen Schmerzen zuzufügen, oder das Standford-Prison-Experiment, dessen Fokus darauf liegt, zu verdeutlichen, wie schnell Menschen in Machtrollen ihr Verhalten verändern.
Bregman führt zahlreiche Gegenbeispiele für gütiges Handeln an, etwa Unternehmen, die ohne klassisches Management funktionieren, Kommunen von Kindern auf verlassenen Inseln oder Solidarität innerhalb von Zivilbevölkerungen in Krisensituationen.
All diese Beispiele zeigen: Vielleicht müssen wir die Geschichte der Menschheit ganz neu denken. Mit der Prämisse, dass die Menschen im Grunde gut sind. Denn das könnte Bregman zufolge weitreichende Folgen für unser aller Leben haben.
„Wenn wir glauben, dass die meisten Menschen im Grunde nicht gut sind, werden wir uns auch dementsprechend behandeln. Dann fördern wir das Schlechteste in uns zutage. Letztendlich gibt es nur wenige Vorstellungen, die die Welt so sehr beeinflussen wie unser Menschenbild. Was wir voneinander annehmen, ist das, was wir hervorrufen. Wenn wir über die größten Herausforderungen unserer Zeit sprechen – von der globalen Erderwärmung bis zum schwindenden gegenseitigen Vertrauen –, glaube ich, dass deren erfolgreiche Bewältigung mit der Entwicklung eines anderen Menschenbildes beginnt.“
Die besondere Stärke des Buches liegt in diesem Perspektivwechsel.
Statt den Menschen immer als Gefahr für andere zu sehen, erkennt man, wie sehr Zusammenhalt, Freundschaft und Verständnis unser Zusammenleben prägen. Dieser Perspektivwechsel ist das Herzstück des Buches – er lässt einen das Gute in der Menschheit erkennen.
In „Im Grunde gut” macht Bregman keinen Halt vor den ganz großen Fragen: Wie funktioniert Gesellschaft? Warum glauben wir so hartnäckig an das Böse im Menschen? Und wie sähen Justiz, Politik, Wirtschaft und Zusammenleben aus, wenn wir das Gute stärker in den Mittelpunkt stellen?
Mit Humor, spannenden Geschichten und klugen Lösungsansätzen trifft Bregman den Sweet Spot zwischen Unterhaltung und Tiefgang. „Im Grunde gut“ ist ein Augenöffner – ein Buch, das die Sicht aufs Leben verändern kann.
„Im Grunde gut” von Rutger Bregman wurde im Deutschen im Rowohlt-Verlag veröffentlicht. Im Taschenbuchformat kostet es 15 Euro und als E-Book 11,99 Euro.
Bei Hummustopia setzen sich Menschen unterschiedlichster Hintergründe an einen Tisch – und sogar Polizist:innen und Mitglieder der linksaktivistischen Szene stellen über einem Teller Hummus oft schnell fest: Am Ende sind wir uns doch alle ähnlicher, als wir denken.
„Wir treffen uns hier zum Austausch. Jede Person setzt sich mit einer anderen Person zusammen, die sie nicht kennt. Ihr bekommt ein Thema und diskutiert, bis ihr mindestens eine Gemeinsamkeit findet. Dazu gibt es leckeres Essen, ganz umsonst. Ihr seid herzlich willkommen!” Avraham Rosenblum steht am Eingang des Café Nova im Hamburger Stadtteil Veddel und erklärt Vorbeigehenden das Konzept der Veranstaltung, die in wenigen Minuten hier beginnt: ein Event seines Projekts „Hummustopia – lecker streiten”.
„HUMMUSTOPIA ist kein einmaliges Event, sondern ein Beispiel dafür, wie nachhaltiger Dialog zwischen Behörden und Bürgerinnen und Bürgern gelingen kann – offen, ehrlich und auf Augenhöhe.”
Vor ungefähr acht Jahren rief Avraham Rosenblum Hummustopia ins Leben, eines von mehreren Projekten mit dem Ziel, Austausch über kulturelle und gesellschaftliche Grenzen hinweg zu fördern. Letztes Jahr gelang ihm dann die Umsetzung eines besonderen Herzensprojekts: eine Zusammenarbeit mit der Polizei Hamburg.
Das Kooperationsprojekt „Zivilgesellschaft und Polizei“ zwischen der Sozialbehörde Hamburg und der Polizei Hamburg, organisiert seit einigen Jahren Veranstaltungen für einen Austausch und ein besseres Verhältnis zwischen Polizei und Bürger:innen. Avraham nahm kurzerhand Kontakt zu den Verantwortlichen auf. Wenig später fand das erste Hummustopia-Event mit Polizeipräsenz statt, bei dem Polizist:innen und Bürger:innen „zum Perspektivwechsel und Mitstreiten über offene Fragen zu Demokratie und Polizeiarbeit” eingeladen wurden.
„HUMMUSTOPIA ist kein einmaliges Event, sondern ein Beispiel dafür, wie nachhaltiger Dialog zwischen Behörden und Bürgerinnen und Bürgern gelingen kann – offen, ehrlich und auf Augenhöhe”, kommentierte die Polizei Hamburg im Anschluss auf ihrem LinkedIn-Kanal. Die nächsten Veranstaltungen sind schon in Absprache.
Was genau passiert, wenn Polizist:innen und Zivilgesellschaft bei einem Teller Hummus aufeinandertreffen, warum kleine Gemeinsamkeiten so wichtig sind und welche Motivation hinter Hummustopia steht – all das haben wir Avraham Rosenblum gefragt.
KräftigeGüteStiftung: Avraham, das ist schon etwas Besonderes: Du stehst hier als Gründer von Hummustopia und lädst die Menschen auf der Straße ein, zu eurer Veranstaltung zu kommen. Machst du das immer so?
Avraham: Ja, das mache ich tatsächlich immer so. So bekommt man ein gemischtes, diverses Publikum. Es sollen sich Menschen gegenübersitzen, die sich sonst nicht austauschen würden. Und die dann feststellen, dass sie eben doch viel mehr gemeinsam haben, als sie denken würden.
Natürlich gibt es auch Personen, die ganz gezielt hierherkommen, die das Projekt schon kennen, aber es gibt eben auch immer viele Leute, die zum ersten Mal oder ganz zufällig da sind. Es ist auch spannend, weil die Veranstaltungen von Hummustopia ja an unterschiedlichen Orten stattfinden. Heute ist zum Beispiel das erste Mal, dass wir hier sind. Da kommen ganz andere Menschen als bei unseren Veranstaltungen in Altona, mitten in der Fußgängerzone. Da ist auch die Stimmung ganz anders, hier ist es ruhiger, dort ist dann immer lautes, buntes Chaos (lacht).
KräftigeGüteStiftung: Im Austausch sollen die Menschen, die einander gegenübersitzen, sich unterhalten, bis sie mindestens eine Gemeinsamkeit entdeckt haben. Welche Art von Gemeinsamkeiten zählt denn?
Avraham: Da bin ich wirklich ganz offen, es gibt wirklich keine Vorgaben. Natürlich geben wir mit unseren Fragen bestimmte Themen vor wie Demokratie oder Solidarität, und meistens finden die Menschen auch Gemeinsamkeiten, wenn sie über diese Fragen sprechen. Aber ich sage allen Leuten: Auch wenn ihr euch zum Thema nicht einigen könnt, ist das völlig okay. Das ist ja auch schon eine Gemeinsamkeit: Ihr könnt euch nicht einigen.
Aber vielleicht finden sie im Gespräch heraus, dass sie zum selben Fitnessstudio gehen und denselben Trainer haben, den sie cool finden. Oder dass sie zum selben Baumarkt gehen und davon angenervt sind. Oder dass sie denselben Lieblingshummusladen haben. Und das reicht mir schon.
Zu Anfang des Events erklären Avraham und seine Mitarbeiter:in die Regeln. Die Gesprächsthemen stehen auf bunten Zetteln, die blind gezogen werden.
Dann geht es los. Im Gespräch muss mindestens eine Gemeinsamkeit gefunden werden.
KräftigeGüteStiftung: Apropos Hummus, du hast beim Ansprechen der Leute auch hervorgehoben, dass es Essen gibt. Warum ist das so ein zentraler Teil des Konzepts – und warum gerade Hummus?
Avraham: Hummus ist eines dieser Gerichte, um das sich viel gestritten wird: Woher kommt es, wer hat es erfunden, wem gehört der Hummus? Aber gleichzeitig ist es etwas unglaublich Vereinendes. Das fängt schon bei der Konsistenz an. Hummus ist eine Masse, Sachen werden zusammengemischt und dann kommt etwas heraus, was zusammenhält. Ich meine, mit Hummus kann man gefühlt Häuser bauen, es ist praktisch wie Mörtel (lacht).
Und natürlich essen viele Menschen auf der ganzen Welt gerne Hummus. Also symbolisiert Hummus auch genau das, worum es uns geht: trotz der Streitigkeiten, die es gibt, das Gemeinsame zu finden. Hummus ist einfach lecker, und das bringt Menschen zusammen.
Das macht Essen natürlich allgemein. Wir unterhalten uns super oft und gerne über Essen, vor allem aber beim Essen. Am Esstisch entstehen Gespräche. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es außerdem einen vermittelnden Effekt hat, wenn man Menschen beim Essen zusammenbringt, dass es die Kommunikation im Zweifel konstruktiver macht. Das ist am Familientisch vielleicht anders, aber hier ist es eher so, wie wenn man sich irgendwo zum Essen trifft. Da will man ja eine funktionierende Kommunikation.
Es hat auch einen ganz praktischen Faktor. Wir wollen, dass die Leute zu uns kommen und sich engagieren, dass sie ihre Zeit mitbringen und sich unterhalten. Und wir geben ihnen etwas im Gegenzug. Es geht dann nicht nur darum, Zivilcourage zu zeigen, indem man kommt. Es ist nicht wieder ein Ehrenamt, sondern man bekommt etwas dafür – nämlich leckeres Essen.
„Es ist total in Ordnung, nicht einer Meinung zu sein, es ist auch gut, viele unterschiedliche Meinungen in der Gesellschaft zu haben. Aber es wird problematisch, wenn wir das nicht mehr als etwas Positives sehen, sondern es zu Hass und Hetze führt.”
KräftigeGüteStiftung: Jetzt geht es bei aller Harmoniesuche bei euch auch ums Streiten – wenn auch ums „lecker Streiten”. Streit wird ja häufig als etwas Negatives wahrgenommen …
Avraham: Das stimmt. Aber streiten ist an sich ein neutrales Wort, es muss nichts Schlimmes oder Negatives sein. Heutzutage ist es aber gesellschaftlich total aufgeladen. Wir leben in Zeiten, wo gerade auch viel Konflikt um uns herum ist. Aber auch schon vorher gab es diese Spaltung in der Gesellschaft, die immer größer geworden ist.
Deshalb brauchen wir eine andere Art, zu kommunizieren. Es ist total in Ordnung, nicht einer Meinung zu sein, es ist auch gut, viele unterschiedliche Meinungen in der Gesellschaft zu haben. Aber es wird problematisch, wenn wir das nicht mehr als etwas Positives sehen, sondern es zu Hass und Hetze führt.
KräftigeGüteStiftung: Funktioniert es denn, die Leute auch zum Streiten zu bringen? Bei der heutigen Veranstaltung schienen die Ansichten ja doch sehr ähnlich zu sein. Ist das sonst anders?
Avraham: Tatsächlich kaum, und das ist der Clou an der Sache. Also auch, wenn man Leute von der Straße holt, auch wenn Leute von der Polizei und Zivilgesellschaft oder sogar von der Polizei und der Roten Flora (Anm. d. Red.: Die Rote Flora ist ein Autonomes Zentrum im seit November 1989 besetzten ehemaligen Flora-Theater im Hamburger Stadtteil Sternschanze und Ausgangspunkt überregionaler sozialer, kultureller und politisch motivierter Aktivitäten der Radikalen Linken) zusammenkommen – die lade ich immer ein und ich weiß, dass schon einige von ihnen da waren – da werden auch Gemeinsamkeiten gefunden. Wir sind uns alle ähnlich, das ist Fakt, und das kommt ziemlich schnell raus.
Selten kommt es schon vor, dass Leute sagen: „nein ich will nicht mehr bei dieser Person sitzen“ oder „ich will mich nicht mehr mit dieser Person unterhalten.“ Es kommt auch vor, dass Leute einander verletzen oder rassistisch sind. Aber es kommt sehr selten vor, von 100 Prozent sind es nicht einmal 1 Prozent.
Das liegt auch daran, dass die Fragen zum Philosophieren einladen, und daran, dass es so niedrigschwellig ist. Es geht mir nur darum, eine Gemeinsamkeit zu finden. Es muss nicht schwierig sein. Ich will nur, dass die Leute beim Zuhören das Negative kurz zur Seite legen und aktiv nach dem Positiven suchen. Und das macht etwas, in meiner Erfahrung. Es führt zu diesem absurden Effekt, dass die Leute sagen: Boah langweilig, wir sind uns so schnell einig. Aber eigentlich ist das doch voll geil. Super, oder? Das wollte ich zeigen, dass es so schnell geht.
KräftigeGüteStiftung: Das ist also dein Hauptantrieb?
Avraham: Es ist ein Antrieb. Wir leben in einer Zeit, in der es nicht so häufig vorkommt und wahrgenommen wird, dass Leute einfach miteinander in Begegnung kommen, auch mit Leuten außerhalb ihrer Bubble. Das passiert sowieso zu selten, aber heute verbringen wir noch dazu so viel Zeit online, in unseren Algorithmenwelten, da ist dieser persönliche Austausch umso wichtiger.
„Der erste Schritt ist für mich immer, trotz meines Schmerzes, trotz meiner Wut und Empörung, die Person mir gegenüber als Menschen zu sehen.“
KräftigeGüteStiftung: Du machst selbst auch mit und unterhältst dich. Was waren deine Erfahrungen?
Avraham: Ich werde normalerweise dazu geholt, wenn es einen Konflikt gibt. Ich selbst diskutiere sehr gerne und philosophiere sehr gerne und habe es mir zur Mission gemacht, dass ich immer versuche, eine andere Perspektive an den Tisch zu bringen, zu fragen: „Habt ihr noch daran gedacht?“
Ich habe also oft Konflikte erlebt, aber selbst in den härtesten Konflikten habe ich es geschafft, die Situation aufzulösen. Ich will keinen besonderen Konflikt hervorheben. Es gab welche, die sehr dramatisch waren, wo Leute geweint haben, wo alte Traumata hochgekommen sind, wo Menschen sehr rassistisch oder diskriminierend waren – es waren extreme Situationen dabei.
KräftigeGüteStiftung: Und wie gelingt es, das aufzulösen?
Avraham: Der erste Schritt ist für mich immer, trotz meines Schmerzes, trotz meiner Wut und Empörung, die Person mir gegenüber als Menschen zu sehen. Ich weiß eigentlich, dass die Chance sehr hoch ist, dass diese Person aus Überzeugung redet. Dass sie überzeugt ist, dass sie eine gute oder richtige Haltung vertritt. Dass sie die Welt gerade heilt.
Und das ist für mich ein guter Start. Auf dem Boden kann ich noch gut bauen, auch wenn unsere Meinungen so unterschiedlich sind. In den seltenen Fällen, wo Menschen wirklich nur Spaß aus dem Konflikt ziehen, muss ich erkennen: Es gibt hier keinen Boden, auf dem wir uns unterhalten können. Dann sage ich: „Ich wünsche Ihnen alles Gute” und gehe.
KräftigeGüteStiftung: Ein Projekt, bei dem man verhärtete Fronten und Konflikte erwarten könnte, ist das Event von Hummustopia in Kooperation mit der Polizei. Wie kam es dazu?
Es war immer mein Traum, einen solchen Austausch zu schaffen. Polizisten und Polizistinnen mit Leuten aus der Zivilgesellschaft, vielleicht sogar Menschen von Gruppen wie der Roten Flora, zusammenzubringen. Ich finde diesen Austausch total wichtig. Darum bin ich mit dem Vorschlag an das Projekt „Zivilgesellschaft und Polizei“ herangetreten und dann haben wir letztes Jahr eine erste Veranstaltung durchgeführt, dieses Jahr dann eine weitere, und ich denke, es wird auch ein drittes Mal stattfinden.
KräftigeGüteStiftung: Sind die Fragen, die dort gestellt werden, anders?
Avraham: Leicht. Ich habe einen allgemeinen Fragenpool, der sich über die Jahre gesammelt hat. Wenn es ein spezifisches Thema ist, dann biete ich auch an, spezifische Fragen zu dem Thema zu machen. Viele Fragen, die es bei Hummustopia gibt, passen auch für solch einen Austausch. Ich wünsche mir auch, dass ein Detektiv mit einem Schwimmer über Protestbewegungen redet oder wie auch immer.
Aber ich habe zusammen mit der Polizei, der Sozialbehörde, Aktion Mensch und Empower (Anm.: einer Beratungsstelle für den Umgang mit rassistischem und diskriminierendem Verhalten) lange an Fragen gearbeitet, und die sind auch sehr kritisch geworden. Wir wollen die Leute ja auch herausfordern. Also haben wir Fragen gestellt zu rassistischen Tendenzen in der Polizei oder Gewalt in der Zivilgesellschaft, zum Rechtsruck oder zu Gewaltmonopolen, wir waren nicht sanft zu ihnen.
KräftigeGüteStiftung: Wie ist das dann abgelaufen?
Avraham: Das war total spannend. Ich wusste das, theoretisch, intellektuell, aber ich wusste nicht, wie doll das ist. Ich als Bürger, als Zivilist, begegne der Polizei ja in der Regel erst, wenn etwas Schlimmes passiert. Und die begegnen mir, der Zivilgesellschaft, auch erst, wenn etwas Schlimmes passiert. Also habe ich eine Anti-Haltung und die haben eine Anti-Haltung. Sie haben Vorurteile wegen der Sachen, die sie tagtäglich erleben, Vorteile wie: Die sind immer besoffen, sie schlagen ihre Partner:innen, sie klauen im Supermarkt. Sie sehen nur das Schlechte an uns. Und wenn man nicht so aktiv darüber nachdenkt, dass es Teil des Jobs ist – ich kann es verstehen, wenn es zu so Fronten kommt.
Es war total spannend zu sehen, wie viel „Angst” die Polizist:innen vor Begegnungen haben. Die sitzen da in ihrer Montur, sie haben sogar manchmal eine Dienstwaffe dabei und trotzdem fürchten sie diesen Moment, wo eine fremde Person kommt und sie gleich kritisiert. Weil sie das erwarten. Und es ist super schön zu sehen, wie sich das abbaut und super spannende Gespräche dabei entstehen.
Das gilt ganz allgemein für alle Veranstaltungen von Hummustopia: Daneben zu stehen und zu sehen, wie Leute nachdenken, wie sie nach oben gucken und sich irgendetwas in ihrer Perspektive ändert, ist das Schönste, was mir passiert.
KräftigeGüteStiftung: Die Reaktionen waren also eher positiv?
Avraham: Absolut, ja. Also von beiden Seiten, sowohl von den Polizist:innen als auch von den anderen Menschen, die da waren. Es war für alle etwas komplett Neues natürlich, und es hat auch etwas Zeit gebraucht, bis sich alle daran gewöhnt haben, aber dann gab es wirklich richtig schöne Situationen des Austauschs.
KräftigeGüteStiftung: Du hast selbst gesagt, das Projekt mit der Polizei war ein Traum von dir. Wie geht es weiter, mit dieser Zusammenarbeit und mit Hummustopia allgemein?
Avraham: Das Pilotprojekt ist von der Sozialbehörde. Ich bin in deren Entscheidungsprozesse natürlich nicht involviert. Ich bin ein Leistungsgeber. Ich kann nur Angebote machen. Gestern (Anm. d. Red.: 15. Juli 2025) hatten wir einen Reflektionstermin mit drei Menschen von der Beschwerdestelle der Polizei und zwei Polizeikommissar:innen, also von der Leitung, und die sind weiterhin gerne dabei. Ob die Sozialbehörde das weiter unterstützt, weiß ich nicht. Das Kooperationsprojekt soll auf jeden Fall ausgebaut werden und auch auf andere Teile Hamburgs ausgeweitet werden.
Ob Hummustopia mitkommt? Das wäre natürlich mein Wunsch, weil es super sinnvoll wäre. Es ist nicht meine Entscheidung, aber ich habe ein gutes Gefühl.
Und natürlich geht es bei uns mit anderen Plänen weiter. Jetzt gerade zum Beispiel ist eine Veranstaltung mit dem FC St. Pauli geplant. Da gibt es gerade einen Konflikt wegen der Vereinshymne, die zunehmend boykottiert wird, weil der Text von einem Menschen stammt, der im 2. Weltkrieg sehr aktiv für das NS-Regime war. Und um die Fronten zu entschärfen, planen wir ein Event mit Hummustopia direkt vor dem Stadion. Es steht also viel an.
Das kann man wohl sagen! Vielen Dank für das Interview und den tollen Abend!
Die Geschichte von Isaac Wright Jr. ist vielleicht eine der spannendsten und gütekräftigsten unserer Zeit: vom Musikproduzenten zum lebenslang Inhaftierten, vom Gefangenen zum Anwalt – und schließlich zum Hoffnungsträger für Unschuldige im ganzen Land.
Teil 2 unserer dreiteiligen Serie zeigt, wie Isaac Wright Jr. mit juristischem Scharfsinn aus der Zelle heraus zentrale Schwachstellen seiner Anklage aufdeckte. Er entlarvte gefälschte Beweise und unzulässige Absprachen, brachte so systematische Fehler ans Licht und leitete die Wende in seinem Fall ein. Zugleich wurde sichtbar, dass auch das Justizsystem in der Lage ist, eigenes Fehlverhalten aufzudecken, zu korrigieren und sich von innen heraus zu erneuern.
Am Ende von Teil 1 hatte Isaac Wright Jr. bereits Unglaubliches erreicht: Er verwandelte sich vom Gefangenen zum juristischen Autodidakten und half Mitinsassen bei ihren Verfahren. Doch sein größtes Ziel stand noch aus – die Aufhebung seiner eigenen lebenslangen Strafe und der Beweis seiner Unschuld.
Teil 2: Der eigene Anwalt
„Die Jahre vergingen und verschmolzen miteinander, etwas, von dem ich keine Ahnung hatte, dass Jahre dazu in der Lage waren. Wenn man jung ist, nehmen sich die Jahre Zeit, entwickeln eine Identität, behaupten sich. Mit zunehmendem Alter gehen sie langsam ineinander über. Im Gefängnis türmen sie sich einfach übereinander und werden zu einem verschwommenen Fleck. Es war eine nervtötende Wiederholung jedes Tages, die selbst den stabilsten Menschen in den Wahnsinn treiben konnte.“
Mit diesen Worten beschreibt Isaac Wright Jr. in seiner Biografie „Marked for Life“ seine Tage im Gefängnis. Doch statt dem Wahnsinn zu verfallen, blieb er stets bei sich und arbeitete verbissen daran, die Wahrheit ans Licht zu bringen.
Denn er wusste, dass er unschuldig war. Von Anfang an bestritt Wright Jr. jegliche Beteiligung an einem Drogenring und forderte die Geschworenen auf, aus seiner Sicht offene Lücken in der Argumentation der Staatsanwaltschaft anzuerkennen. „Dieser gesamte Fall basiert auf einer Lüge – motiviert durch Eifersucht, Rachsucht und rassistische Selektivität“, sagte Wright Jr. damals. Doch bis er seine Unschuld beweisen konnte, war es ein langer und steiniger Weg, den er zu gehen hatte.
Durch sein Selbststudium im Gefängnis hatte er bereits früh herausgefunden, dass die Geschworenen in seinem Prozess nicht ordnungsgemäß über die Anforderungen des Kingpin-Gesetzes informiert worden waren. „Die Definition eines Kingpins im Strafgesetzbuch war eindeutig, aber die Anweisungen an die Geschworenen waren extrem allgemein gehalten. Gemäß den Anweisungen an die Geschworenen bezog sich der Begriff ‚Kingpin‘ auf jeden, der an einer Drogenverschwörung beteiligt war, sogar auf eine Gruppe von Süchtigen, die sich zum Verkauf von Drogen zusammentaten, um ihre eigene Sucht zu finanzieren“,
Doch weil sein Fall sehr im Fokus der Öffentlichkeit stand, zögerte Wright Jr., diese Entdeckung gleich für eine eigene Berufung zu nutzen. Er fürchtete, auf zu große Widerstände zu stoßen und schnell abgewiesen zu werden. Also legte er seine Theorie in die Schublade, widmete sich weiter seinen Studien und wartete auf den richtigen Augenblick, um sie auszuprobieren. Und das Warten machte sich bezahlt. Eines Tages stellte ihm ein Mithäftling, der als Rechtsassistent andere Insassen in juristischen Fragen beriet, Ryan Lee Alexander vor. Dieser war wie Wright Jr. als Kingpin verurteilt worden und hatte sich bereits entschieden, in Berufung zu gehen – was fehlte, war die richtige Strategie.
Kingpin-Gesetz: Härte als Schwäche, Fairness als Stärke
Wright Jr. hatte plötzlich die Gelegenheit, ein erstes Ausrufezeichen zu setzen. Doch Alexanders Pflichtverteidigermisstraute seinem Klienten, obwohl er anerkannte, dass dessen Theorie gut durchdacht war. Er konnte sich schlicht nicht vorstellen, dass Wright Jr. als Autodidakt die Idee und die darauf basierende Verteidigungsstrategie selbst formuliert hatte und lehnte es deshalb ab, sie zu übernehmen. Doch Wright Jr. blieb hartnäckig und überzeugte Alexander, sie selbst in einen ergänzenden Schriftsatz für seine Berufung aufzunehmen. Und siehe da: Die Strategie „schlug ein wie eine Lenkrakete.“
1994 ging Alexanders Berufung bis zum Obersten Gerichtshof des Bundesstaates, der seine lebenslange Haftstrafe aufhob, ihn aus dem Gefängnis entließ und infolgedessen ein neues Gesetz auf der Grundlage der Theorie schuf. Denn das Aufhebungsurteil der Berufungskammer stellte klar: Die Geschworenen hätten darauf hingewiesen werden müssen, dass die Beweislast, wonach der Angeklagte als „hochrangiges Mitglied“ eines organisierten Drogenhandelsnetzwerks fungierte, beim Staat lag.
Das bisherige Kingpin-Gesetz war im Kern auf Fairness angelegt, ließ aber zu viel Spielraum für Härte – ein Mangel, den erst das Aufhebungsurteil sichtbar machte und korrigierte. Rechtsanwalt Gilbert G. Miller, der später als stellvertretender Staatsanwalt mit der Berufung von Wright Jr. befasst war, äußerte sich beeindruckt zu seiner Beteiligung am Präzedenzfall Alexander: „Ich fand Herrn Wright äußerst intelligent und einen besseren Schriftsatzverfasser als die meisten Anwälte, denen ich begegnet bin. Am meisten beeindruckte mich Mr. Wrights Fähigkeit als Rechtsstratege.“
Unrecht und Schaden durch Machtmissbrauch
Obwohl Wright Jr. so seine lebenslange Haftstrafe durch die Kingpin-Verurteilung erfolgreich anfocht und die Berufungskammer von New Jersey sein Urteil ein Jahr später aufhob, verging bis zur finalen Bestätigung durch die höchste Instanz fast ein weiteres Jahr. Für eine Entlassung in die Freiheit reichte dies ohnehin nicht aus, da die zusätzlichen 70 Jahre Gefängnisstrafe, zu denen er wegen vermeintlicher weiterer Vergehen verurteilt worden war, bestehen blieben.
Wright Jr. war sich bewusst, dass der Beweis seiner Unschuld und eine Aufhebung aller Urteile erfordern würden, die illegalen Absprachen und fingierten Beweise aufzudecken, die zu seiner Verurteilung geführt hatten. Doch dazu brauchte er großes Fingerspitzengefühl, denn er hatte es mit professionellen Juristen zu tun, die genau wussten, was sie taten. Ihm gegenüber stand Nicholas L. Bissell Jr., der langjährige Staatsanwalt von Somerset County.
Dieser wurde häufig beschuldigt, seine Macht auszunutzen. Er machte keinen Hehl daraus, dass er in der Berufung am längeren Hebel saß. Über Jahre verweigerte er ihm Einsicht in seine Unterlagen, obwohl er diese der Verteidigung eigentlich gewähren musste.
Im Juli 1995 wurde selbst für den angesehenen Staatsanwalt der Druck zu groß, er musste Wright Jr. entgegenkommen. Für einen Tag gewährte er diesem den Zugang zu allen Ermittlungsunterlagen. Einerseits eine einmalige Chance, anderseits auch ein unmögliches Unterfangen, angesichts der schieren Menge an Akten.
Doch Isaac Wright Jr. gelang an diesem schicksalhaften Tag das Unmögliche. Er fand die Nadel im Heuhaufen: In einer unscheinbaren Aktennotiz bestätigten die an seinem Fall beteiligten Detectives gegenüber dem Staatsanwalt, ihre Polizeiberichte gegenseitig gelesen zu haben. Vor Gericht hatten sie dies noch geleugnet. Wright Jr. war sofort klar, dass diese Information einen entscheidenden Vorteil bringen konnte.
Denn wenn ein:e Polizeibeamt:in A den Bericht von Kolleg:in B gelesen hat, darf die Verteidigung A vor Gericht zu den Inhalten und möglichen Widersprüchen in Bs Bericht befragen. Auf diese Weise kann sie die Glaubwürdigkeit von B infrage stellen, ohne B direkt vernehmen zu müssen.
Eine Strategie für Gerechtigkeit
Diese Aktennotiz würde „alle Lügen wie ein scharfes Messer durchschneiden“, war sich Wright Jr. sicher. Er müsste nur eine Schwachstelle in der falschen Beweiskette finden. Doch das war riskant, denn Wright Jr. rechnete fest damit, dass er nur eine einzige Chance haben würde. Er musste auf den Überraschungseffekt setzen.
Wochenlang erstellte er Profile aller Detectives, studierte sämtliche Berichte zu seinem und ähnlichen Fällen noch einmal minutiös und holte Infos von Mitinsassen ein, die selbst schon mit diesen Detectives zu tun gehabt hatten. „Ich untersuchte die Art und Weise, wie sie die Fakten darstellten, verglich die Diskrepanzen zwischen verschiedenen Versionen der Vorfälle und maß, wie leicht es ihnen fiel, zu lügen. Es war primitiv, aber ich arbeitete mit dem, was ich hatte, um eine fundierte Vermutung darüber anzustellen, wer am ehesten zusammenbrechen würde. Als ich fertig war, stach ein Polizist hervor: Detective James Dugan.“
Entscheidende Anhörung
1996 kam es zur entscheidenden Anhörung. Wright Jr. vertrat sich selbst und konfrontierte Dugan im Kreuzverhör mit Beweisen für systematisches Fehlverhalten. Unter Druck gesetzt gestand der Beamte, dass er Berichte gefälscht, Beweise manipuliert und Zeug:innen beeinflusst hatte. Dugans Geständnis, mit dem er selbst einer Gefängnisstrafe entging, brachte weitreichende und systematische Verfehlungen und Vertuschungen ans Licht.
Staatsanwalt Nicholas L. Bissell Jr. wurde als Drahtzieher dieses Fehlverhaltens identifiziert. Er hatte Polizeibeamt:innen aktiv angewiesen, ihre Berichte zu fälschen, während er persönlich die falschen Aussagen von Zeugen:innen gegen Wright Jr. diktierte. Zudem traf er geheime Absprachen mit der Strafverteidigung, damit deren Mandant:innen vor der Jury logen, Wright Jr. sei ihr Drogenboss. Dieses missbräuchliche und korrupte Vorgehen brachte dem Staat keinen Gewinn – aber es gab ihm die Chance, es künftig besser zu machen.
Das System reinigt sich von innen
Während Wright Jr. weiter um seine Freiheit kämpfte, zeigte der Staat die Fähigkeit zur Selbstkorrektur: Zwei zentrale Figuren seines Prozesses, Richter Imbriani und Staatsanwalt Bissell Jr., wurden selbst Teil von Ermittlungen und Sanktionen.
Imbriani, der Wright Jr. 1991 verurteilt hatte, verlor sein Amt, nachdem er der Unterschlagung und Steuerhinterziehung überführt worden war. Bei Bissell Jr. deckte eine bundesstaatliche Untersuchung neben dienstlichen Fehlern auch illegale persönliche Bereicherung und Betrug auf, was zur Anklage, Verurteilung und seinem Selbstmord auf der Flucht vor der Strafverfolgung führte.
Richter Leonard Arnold, Imbrianis Nachfolger am Obersten Gerichtshof von New Jersey, fasste später zusammen: „Dies ist ein Fall, in dem die höchsten Polizeibeamten dieses Countys das Verfassungsrecht offen missachtet haben.“
Doch der Staat übernahm Verantwortung, gestand Fehler ein und justierte das System nach – ein markanter Beleg für die Bereitschaft zur Kontrolle und Korrektur von Machtmissbrauch auch in den höchsten Reihen der Justiz.
Wette auf eine glorreiche Zukunft
Die Enthüllungen über systematische Fälschungen und Korruption erschütterten das gesamte Justizsystem von Somerset County. Für Wright Jr. war dies der entscheidende Wendepunkt. Im Mai 1996 sprach der Oberste Gerichtshof ihm das Recht auf ein neues Verfahren zu. Im Dezember desselben Jahres kam er erstmals gegen Kaution frei – mehr als sieben Jahre nach seiner Festnahme.
Obwohl Wright Jr. einen steinigen Pfad beschritt, erfuhr er auch immer wieder Unterstützung, fand selbst in einem scheinbar kranken System Menschlichkeit – angefangen bei der Möglichkeit, sich juristisch weiterzubilden und mit anderen zu vernetzen, über den Zugang zu Unterlagen seiner Gegner bis hin zu einer ganz konkreten Szene kurz vor seiner Freilassung:
Ein Wärter kam zu seiner Zelle und rang ihm das Versprechen ab, nicht wieder zurückzukommen, denn er und der gesamte Vollzugsdienst hätten auf ihn gewettet, schildert Wright Jr. die Situation.
„Ich verspreche Ihnen, dass ich nicht auf diese Seite zurückkommen werde. Aber vielleicht komme ich von draußen zurück, um in Ihr Büro zu kommen und etwas von dem Geld zu holen, das Sie gewonnen haben“, lautete seine Antwort, während er die Hand des Wärters schüttelte. Zu sich selbst sagte Wright Jr.: „Es war in einen Scherz und eine Wette verpackt, aber ich konnte erkennen, dass er an mich glaubte.“
Teil 2 endet hier. Doch Isaac Wright Juniors Reise war mit der Freilassung nicht abgeschlossen. Schon im Gefängnis hatte er begonnen, als juristischer Autodidakt auf ein gütekräftigeres System hinzuarbeiten und anderen Gefangenen zu helfen.
Als Nächstes begleiten wir Wright Jr. beim Schritt in die Freiheit, die er sofort nutzt, um zum Verteidiger Unschuldiger zu werden und das Rechtssystem weiter zu reformieren.
Wie er damit endgültig zum Symbol für Gerechtigkeit wurde und warum seine Geschichte inzwischen sogar unter prominenter Beteiligung verfilmt wurde, erzählt Teil 3.
Als Reinhard Wiesemann die Preisverleihung im Erich-Brost-Pavillon auf Zeche Zollverein eröffnet, taucht die untergehende Sonne die Essener Skyline in ein malerisches Abendrot. In 38 Metern Höhe auf dem Dach der ehemaligen Kohlenwäsche des UNESCO-Welterbes bietet sich dem Vorsitzenden der KräftigeGüteStiftung und den knapp 250 geladenen Gästen ein spektakulärer Panoramablick über das Industriedenkmal. Das Naturfarbspiel unterstrich an diesem historischen Tag, genau 100 Jahre nach der gewaltfreien Beendigung der Ruhrbesetzung, die Bedeutsamkeit des untrennbar mit Frieden verknüpften Preises im Jahr 2025.
Reinhard Wiesemann eröffnet die Preisverleihung im Abendlicht.
Blick von Zeche Zollverein auf den Sonnenuntergang über Essen
Die Wirkmacht gütekräftigen Vorgehens
„Ich hätte nie gedacht, dass ich mich einmal für Güte starkmachen müsste“, beginnt Reinhard Wiesemann seine Rede. In Anbetracht grassierender Aggressionen und Machtmissbräuche durch Staaten weltweit, setzt sich die KräftigeGüteStiftung für gewaltfreie Ansätze bei Polizei, Justiz, Politik und Diplomatie ein. „Güte ist ein effektives, nachhaltiges und günstiges Mittel für den Staat.“
Die Verleihung des ersten Gütekraft-Preises ist für den Vorstand der Stiftung daher ein wichtiger Baustein, um Entscheidungsträger des Staates von der Wirkmacht gütekräftigen Vorgehens zu überzeugen und diejenigen zu ehren, die sich darum verdient machen. Zum Rahmenprogramm gehörten unter anderem Reden von Dr. Martin Arnold und Prof. Karsten Rudolph über die Bedeutung gewaltlosen Widerstandes und gütekräftiger Diplomatie in der Menschheitsgeschichte sowie musikalische Beiträge von Vorstandsmitglied Peter Helle mit der Gütekraft-Hymne und dem Chor Living Voices.
Güte beginnt in Familie und Nachbarschaft
Der Veranstaltung ging außerdem ein Familienfest mit Kirmes-Charakter auf Zeche Zollverein voraus, bei dem Eltern und Kinder auf spielerische Weise mit Feuerwehr, Rettungskräften, dem Jugendamt und engagierten sozialen Organisationen wie der AWO, dem Essener Lernzentrum, dem Jugend-Migrationsdienst und dem Zukunft-Bildungswerk in Berührung kamen. „Das Verständnis davon, wie Güte im Alltag wirken kann, muss bereits in der Familie und Nachbarschaft beginnen“, sagte Reinhard Wiesemann.
Als Preisträger des Abends verkörpere der Initiativkreis Religionen in Essen (IRE) diese Grundüberzeugung der Stiftung, indem unterschiedlichste Menschen und Viertel der Stadt zusammengebracht werden, sagte Laudator Thomas Kufen. Der Oberbürgermeister der Stadt Essen zollte insbesondere der Konsensfähigkeit des IRE in politisch turbulenten Zeiten Respekt: „Manchmal sind die Unterschiede groß. Manchmal gibt es Fragen, die einfach nicht beantwortet werden können. Aber IRE weiß das und man muss eben nicht in allen Punkten übereinstimmen, um für Frieden, Respekt und Gerechtigkeit gemeinsam zu handeln.“
„Respekt vor der Wahrheit des jeweils anderen“
Seit 15 Jahren vertritt der IRE mit diesem Ansatz sechs unterschiedliche Religionsgemeinschaften, die nicht das Ziel haben, sich zu einigen, sondern gemeinsam zu handeln. Der Initiativkreis organisiert unter anderem Kulturdialoge, Gedenkveranstaltungen, Bildungsprojekte und interreligiöse Sport- und Musikevents. Insbesondere werden Anregungen für eine friedliche Zukunft der Stadtgesellschaft im Dialog erarbeitet und auch gemeinsame Erklärungen abgegeben.
„Das Gemeinsame in die Mitte zu stellen und das vermeintlich Trennende an den Rand – das ist unser Leitgedanke“
Pfarrer Andreas Volke, der den Gütekraft-Preis mit den Vertretern des Initiativkreises entgegennahm, erklärte das Gelingen dieses Ansatzes mit „Respekt vor der Wahrheit des jeweils anderen“ und einem Verantwortungsgefühl, das die Mitglieder des IRE verspürten. Der Leitgedanke, „das Gemeinsame in die Mitte zu stellen und das vermeintlich Trennende an den Rand“, sei nicht immer einfach, aber lohne jeden Aufwand für eine friedliche, demokratische Gesellschaft.
„Wer nach außen Frieden verkündet, muss auch in seinen inneren Entscheidungen den Weg des Friedens wählen. Wer Respekt einfordert, muss auch selbst respektvoll miteinander umgehen.“
„Alle Religionen, jede gelebte Kultur und jede Stadtgesellschaft haben einen gemeinsamen Auftrag zum Frieden, den es auszugestalten gilt“, sagte Andreas Volke. Die Geschichte des IRE selbst begann in einer Zeit, in der Hass gegen Sikhs und Juden mit teils religiösen Begründungen um sich griff. Darum mahnte der Pfarrer: „Wer nach außen Frieden verkündet, muss auch in seinen inneren Entscheidungen den Weg des Friedens wählen. Wer Respekt einfordert, muss auch selbst respektvoll miteinander umgehen.“
Vielfalt als Bereicherung, Güte als Stärke
Dem Initiativkreis gelinge dies heute unter anderem, indem Vielfalt und Verschiedenheit nicht zum Hindernis, sondern vielmehr zur Bereicherung genutzt würden, sagte Thomas Kufen. Andreas Volke richtete seinerseits Dank zurück an den Laudator. Dass der Oberbürgermeister den IRE im Rathaus empfängt und ernst nimmt, sei nicht selbstverständlich. Doch die enge Zusammenarbeit bekräftige die Lokalpolitik im Umgang mit religiös radikalen oder extremistischen Menschen, die anders als die Mitwirkenden des Initiativkreises nicht von ihren religiösen Dachverbänden entsendet und legitimiert werden.
Reinhard Wiesemann mit den Preisträgern und Preisträgerinnen
Dr. Martin Arnold hält eine Rede.
Nicht zuletzt diese Erfolge auf politischer Ebene waren ein entscheidender Grund für den Vorstand, den IRE mit dem ersten Gütekraft-Preis auszuzeichnen, bekräftigte Reinhard Wiesemann. „Wir sehen einmal mehr: Güte ist kräftig und nicht schwach.“ Mit seinem einzigartigen Modell „gelebter Gütekraft“ könne der Initiativkreis ein Beispiel für weitere Städte und Kommunen in ganz Deutschland sein.
Ein Friedenspreis mit praktischem Anspruch
Genau diese stellt auch die Skulptur des Künstlers Marcus Kiel dar, die die Vertreterinnen des IRE für ihren Einsatz feierlich überreicht bekamen: zwei Parteien, dargestellt als stählerne Klammern auf Grubenholz, die sich gegenüberstehen. Der Abstand zwischen ihnen bietet Platz für gütekräftige Konzepte, wie beide Parteien gewaltfrei aufeinander zugehen können.
Darüber hinaus war der Preis mit Geld verbunden, das der Initiativkreis Religionen Essen nutzen will, um seine Arbeit auszuweiten und mehr Engagierte, insbesondere Frauen, zu gewinnen. Dieser direkte Aufruf fand gleich im Anschluss an die Preisverleihung regen Anklang. Dutzende Menschen blieben noch bis spät in den Abend. Sie lernten sich kennen, tauschten sich über Lösungsansätze für drängende Herausforderungen unserer Zeit aus oder verabredeten sich gleich zu gemeinsamen Aktionen für mehr Gütekraft.
In politischen Debatten steht immer wieder die Behauptung im Raum, Menschen, die nach Deutschland einwandern, würden meist keine Bildungsabschlüsse haben. „Das ist Unsinn!“ und „Selbst, wenn es stimmte, wäre das nicht schlimm“, sagen Reinhard Wiesemann und Serdar Yüksel MdB, Vorsitzender und stellvertretender Vorsitzender der KräftigeGüteStiftung. Sie erklären, wie es tatsächlich um die Bildungsabschlüsse unter Migranten steht und weshalb auch die Aufnahme ungelernter Menschen eine gütekräftige politische Praxis ist.
REDAKTION: Serdar, du engagierst dich nicht nur als stellvertretender Vorsitzender der KräftigeGüteStiftung, sondern auch als Abgeordneter in deinem Wahlkreis Wattenscheid sowie im Parlament in Berlin für Menschen, die nach Deutschland einwandern – stimmen die Aussagen der AfD, dass unter Migranten in erster oder auch zweiter und dritter Generation kaum Fachkräfte zu finden sind?
SERDAR: Die Behauptung, unter Migrantinnen und Migranten gäbe es kaum Fachkräfte, ist schlicht falsch. Viele bringen Abschlüsse mit – und in zweiter oder dritter Generation sind sie längst Ärzte, Ingenieure, Handwerker oder Unternehmer.
Das Klischee vom ‚bildungsfernen Migranten‘ entspricht nicht der Realität. Es wird bewusst gestreut, um Ängste zu schüren, aber es widerspricht der Lebenswirklichkeit, die wir täglich erleben.
Der Querschnitt geflüchteter Menschen ist dabei genauso unterschiedlich wie alle anderen, wie unsere Gesellschaft auch.
Serdar Yüksel MdB, stellvertretender Vorsitzender der KräftigeGüteStiftung
„Das Klischee vom ‚bildungsfernen Migranten‘ entspricht nicht der Realität. Es wird bewusst gestreut, um Ängste zu schüren, aber es widerspricht der Lebenswirklichkeit.“
Reinhard Wiesemann, Vorsitzender der KräftigeGüteStiftung
REDAKTION: Reinhard, als Vorsitzender der Stiftung sagst du, gerade diejenigen aufzunehmen, die keine höhere Schul- oder Fachausbildung haben, ist sehr gütekräftig. Erklär uns doch zu Anfang, was der Begriff „Gütekraft“ genau bedeutet.
REINHARD: „Wenn’s nicht mit Güte geht, dann eben mit Gewalt“ – das ist die verbreitete Sichtweise, die täglich zu schädlichen Handlungen führt und uns immer größere Probleme beschert.
Denn Gewalt täuscht Wirksamkeit nur vor, schafft aber in Wirklichkeit Feinde, Spannungen und Instabilität. Gewalt ist wie das Schmerzmittel, das symptomatisch Linderung schafft, aber die wahre Ursache unbehandelt lässt. Wenn die Polizei zum Beispiel mit einer Hundertschaft gegen wütende Demonstranten vorgeht, dann ist die Wut auf der Straße zunächst nicht mehr sichtbar, aber unter der Oberfläche ist sie stärker als je zuvor, findet sogar neue Unterstützer. Und sie wird sich immer wieder neu entladen, denn die Gewaltspirale ist im vollen Gang.
Güte dagegen ist eine völlig unterschätzte Alternative, mit der wir genauso wie mit Gewalt Ziele erreichen können. Aber sie hat keine schädlichen Nebenwirkungen, denn sie adressiert die Ursache eines Problems, schafft Verbündete und führt zu langfristig stabilen Verhältnissen. Wenn wir im Beispiel der wütenden Demonstranten bleiben, dann würde die Polizei das Gespräch mit den Demonstranten suchen, Absprachen treffen und auf Einhaltung des legalen Rahmens drängen. Dafür gibt es wunderbare Beispiele, wie das funktioniert – beide Seiten bekommen ihren Raum, aber es bleibt friedlich.
Güte ist eine völlig unterschätzte Alternative, mit der wir genauso wie mit Gewalt Ziele erreichen können. Aber sie hat keine schädlichen Nebenwirkungen, denn sie adressiert die Ursache eines Problems, schafft Verbündete und führt zu langfristig stabilen Verhältnissen.“
REDAKTION: Serdar hat bereits erläutert, dass ein Großteil der Einwanderer fachliche Qualifikationen mitbringt beziehungsweise sich diese im Lauf der Zeit hart erarbeitet – noch dazu in einer neuen Sprache. Aber was ist mit den anderen, die ja auch kommen? Sollte deutsche Migrationspolitik darauf abzielen, zum Beispiel nur studierte Menschen aufzunehmen?
REINHARD: Auf keinen Fall! Nehmen wir die AfD als Beispiel. In ihrem Wahlprogramm priorisiert die Partei die „kulturelle Identität Deutschlands“ und will nur begrenzt und nur qualifizierte Einwanderung erlauben. Doch Deutschland ist schon lange nicht mehr ausreichend attraktiv für Fachkräfte.
Wenn wir den AfD-Weg gehen würden, dann hätten wir viel zu geringe Einwanderungszahlen und angesichts der Überalterung unserer Bevölkerung würden Wirtschaft und Wohlstand schrumpfen.Wir sehen das jetzt schon, und wir müssen jetzt etwas dagegen tun.
Selbst wenn die Geburtenrate sofort ansteigen würde, es würde etwa 20 Jahre dauern, bis die neue Generation ausgebildet wäre. Doch zunächst unqualifizierte junge Einwanderer sind schon nach 5-10 Jahren in qualifizierten Berufen. Sie entwickeln eine tiefe Bindung zu Deutschland, und als Nebeneffekt entstehen für unser Land positive Beziehungen zu den Herkunftsländern.
Die Statistik der Arbeitsagentur bestätigt diese Sichtweise: „Die Erwerbstätigenquote der Syrerinnen und Syrer, die im Jahr 2015 nach Deutschland zugezogen sind, lag nach sieben Jahren Aufenthalt bei gut 60 Prozent, Tendenz steigend.“ Und neuere Zahlen zeigen, dass von den rund 1 Million Geflüchteten nach Assads Sturz nur 4.000 nach Syrien zurückgekehrt sind.
Würden wir dagegen Menschen erst in späterem Lebensalter als ausgebildete Fachkräfte aus anderen Ländern abwerben, dann füllt sich Deutschland mit Menschen, die eine viel schwächere Bindung zu uns haben, und wir beschädigen unsere Beziehungen zu den Herkunftsländern.
Was allerdings auch nicht verschwiegen werden darf: Wer wenig qualifizierte junge Menschen ins Land lässt, der erlebt darunter auch Halbstarke mit ihren typischen Problemen und leider auch einen gewissen Prozentsatz an Straftätern. Einen Preis zahlt man immer.
„Es ist nicht nur ein Akt der Humanität, Migranten willkommen zu heißen – es ist eine Frage der Vernunft und der Stabilität unserer Gesellschaft.“
REDAKTION: Serdar, du warst knapp 20 Jahre als Krankenpfleger tätig. Kannst du Reinhards Argumentation mit Beispielen aus dem Berufsalltag füllen?
SERDAR: Gerade auch als Vorsitzender der Arbeiterwohlfahrt, die Integrations- und Sprachkurse anbietet, und als Gesundheitspolitiker sehe ich jeden Tag, wie wichtig Zuwanderung ist.
Ohne die Menschen, die zu uns gekommen sind und hier als Fachkräfte arbeiten, wäre unser Gesundheitssystem schon längst zusammengebrochen. Viele von ihnen füllen Lücken, die wir allein nicht mehr schließen können. Es ist nicht nur ein Akt der Humanität, sie willkommen zu heißen – es ist eine Frage der Vernunft und der Stabilität unserer Gesellschaft.
REDAKTION: Wie wirksam sind aus deiner Erfahrung staatliche Programme, die bewusst zum Beispiel Pflegekräfte anwerben?
SERDAR: Natürlich brauchen wir Anwerbeprogramme im Ausland, etwa für Pflegekräfte. Aber noch entscheidender ist, dass wir diejenigen stärken, die bereits hier sind.
Wenn wir in Sprachkurse investieren, wenn wir die Anerkennung von Abschlüssen beschleunigen und echte Ausbildungsperspektiven schaffen, dann gewinnen wir gleich doppelt: Die Menschen können schnell auf eigenen Beinen stehen – und unsere Gesellschaft profitiert unmittelbar von ihren Fähigkeiten.
„Wer Straftätern mit Härte begegnet, erzeugt starke Bilder und Schlagzeilen, aber er bekämpft nur die Symptome.“
REDAKTION: Die KräftigeGüteStiftung spricht ganz gezielt etwa politische Akteure an, die Gesetze anstoßen oder Programme in diesem Sinne aufsetzen. Wie gelingt das und was gibt es bereits an Beispielen in der Migrationspolitik, die zeigen, dass Güte kräftiger ist als Härte und Strafen?
REINHARD: Gütekräftiges Handeln ist nicht nur moralisch überlegen, es ist auch effektiver und damit klüger. Deutschland hat sich 2015 höchst gütekräftig verhalten, und das hat uns schon heute vor zahlreichen Problemen bewahrt. Wenn wir nur die geringe Zahl qualifizierter Menschen ins Land gelassen hätten, die sich um Einwanderung bewerben, dann gäbe es in zahlreichen Bereichen unseres Lebens – auch in medizinischen und pflegerischen – einen noch größeren Personalnotstand, als wir ihn jetzt haben.
Und was den Umgang mit Straftätern angeht: In Deutschland sind wir sehr erfolgreich mit gütekräftigen, Resozialisierung betonenden Ansätzen. Wir haben zum Beispiel im Vergleich mit den viel mehr auf Härte setzenden USA nur 10 Prozent der Strafgefangenen. Auch die Mordrate ist in Deutschland um 80 Prozent geringer als in den USA.
Das Problem liegt in der Wahrnehmung: Wer Straftätern mit Härte begegnet, erzeugt starke Bilder und Schlagzeilen, aber er bekämpft nur die Symptome. Wer dagegen die Ursachen von Kriminalität bekämpft, wird als nachdenklich und schwach wahrgenommen, doch er beseitigt das Problem an der Wurzel.
REDAKTION: Serdar, du hast damals noch als Landtagsabgeordneter mit der Caritas die Initiative „Flüchtlingsdorf Ruhrgebiet“ ins Leben gerufen. Diese Entscheidung war nicht nur beliebt – hat sich diese politische Güte gelohnt?
SERDAR: Im Jahr 2015 habe ich das Flüchtlingsdorf Ruhrgebiet in Kurdistan/Nordirak mitinitiiert. Wir sind mit 100 Containern gestartet, heute leben dort fast 9.000 Menschen. Uns ging es nicht nur darum, Menschen vorübergehend unterzubringen, sondern ihnen eine echte Lebensperspektive zu geben.
Deshalb gibt es im Dorf Gewächshäuser, eine Bäckerei, Handwerker- und Ladenstraßen, ein Jugendzentrum, eine Bibliothek, ein Therapiezentrum, eine Zahnarztpraxis und sogar einen Sportplatz.
Damit ist ein Ort entstanden, der nicht nur Schutz bietet, sondern auch Bildung, Arbeit, Gemeinschaft und Hoffnung. Anfangs gab es viel Skepsis, aber heute zeigt sich: Wenn wir mit Güte handeln, entfaltet das eine enorme Kraft – Zweifel und Widerstände verlieren dagegen an Bedeutung.
REDAKTION: Die AfD hat in Sachsen-Anhalt mal gefordert, dass Kinder aus der Ukraine gesondert unterrichtet werden sollten. In Schulen nämlich, auf die ausschließlich ukrainische Kinder gehen und wo auf Ukrainisch unterrichtet werden sollte. So wollte man überforderte Lehrkräfte entlasten und dafür sorgen, dass die Menschen nach Ende des Krieges nicht in Deutschland bleiben würden.
„Wir können froh sein, dass so viele junge Menschen nach Deutschland kommen, die bei uns ausgebildet werden“
REINHARD: Ich verstehe nicht, wie man in einer Zeit des Personalnotstands in fast allen Branchen darüber nachdenken kann, junge Menschen aus Deutschland zu vertreiben. Wir brauchen Nachwuchs für die Babyboomer-Generation, und wir befinden uns in einem internationalen Wettbewerb um fähige, engagierte Menschen.
Wir können froh sein, dass so viele junge Menschen nach Deutschland kommen, die bei uns ausgebildet werden und hoffentlich so starke Bindungen an Deutschland entwickeln, dass sie bleiben. Und das geht natürlich nur, wenn die Kinder am Regelunterricht teilnehmen, sobald sie grundlegende Sprachkenntnisse haben.
„Integration funktioniert und bereichert unser Zusammenleben. Populismus hingegen bietet keine Lösungen – er verstärkt nur die Probleme und spaltet unsere Gesellschaft.“
REDAKTION: Wie gelingt es politisch, die Wähler und auch Parteikollegen oder Vorgesetzte von nachhaltiger Migrationspolitik zu überzeugen, die nicht nur populistisch an der Oberfläche kratzt, sondern wirklich gütekräftig ist?
SERDAR: Politisch überzeugt man Menschen nicht allein durch Appelle, sondern durch konkrete Erfolge, die im Alltag sichtbar werden: der syrische Jugendliche im Fußballverein, die afghanische Familie mit ihrem Café, der neue Nachbar, der als Pfleger oder Ärztin arbeitet.
Diese Geschichten zeigen, dass Integration funktioniert und unser Zusammenleben bereichert. Populismus hingegen bietet keine Lösungen – er verstärkt nur die Probleme und spaltet unsere Gesellschaft.
„Solange ein Großteil unserer Mitbürger daran glaubt, dass aktuelle Probleme mit Härte gelöst werden müssen, werden auch Politik und Verwaltung in diese Richtung tendieren.“
REDAKTION: Welche Projekte aus dem Bereich Migration und Migrationspolitik begleitet die KräftigeGüteStiftung aktuell und was ist als nächstes geplant?
REINHARD: Politik, Initiativen und Vereine sind Strukturen, in denen Menschen Meinungen vertreten, aktiv werden, und die wir von der Überlegenheit gütekräftigen Vorgehens überzeugen wollen. Migranten sind in diesen Strukturen noch unterrepräsentiert, deshalb kooperieren wir mit der neu gegründeten „Deutsch-Syrischen Initiative“ im Bereich gesellschaftliche Teilhabe.
Daneben nutzen wir Filme und andere öffentlichkeitswirksame Mittel, um Verständnis für Migranten zu fördern. Wir versuchen, zu der Vision eines höchst erfolgreich gütekräftig handelnden Staates beizutragen, der Win-win-Situationen für alle schafft.
Denn solange ein Großteil unserer Mitbürger daran glaubt, dass aktuelle Probleme mit Härte gelöst werden müssen, werden auch Politik und Verwaltung in diese Richtung tendieren. Um in dem anfangs erwähnten Beispiel zu bleiben: Die Polizei wird sich schwertun, gütekräftig auf wütende Demonstranten zuzugehen, wenn die Öffentlichkeit lautstark Härte fordert. Und auch an ihre Wiederwahl denkende Politiker stellen sich ungern gegen die öffentliche Meinung.
Ganz konkret sehen wir deshalb unsere Aufgabe darin, der Öffentlichkeit immer wieder die Überlegenheit gütekräftigen staatlichen Handelns zu erklären und an konkreten Beispielen zu belegen. Dazu trägt auch der Gütekraft-Preis bei, der in diesem Jahr zum ersten Mal verliehen wird. Und natürlich dieser Newsletter, in dem auf große und kleine Erfolge gütekräftigen Handelns staatlicher Machtträger hingewiesen wird.
„Was wir wirklich brauchen, ist eine neue Basis des friedlichen Zusammenlebens – getragen von einer positiven Vision unserer Gesellschaften.“
SERDAR: Wir erleben in unserem Staat und weltweit, dass die Fliehkräfte zunehmen und der gesellschaftliche Kitt zu bröckeln beginnt. Wer darauf mit Konfrontation, Härte und Abschottung reagiert, verschärft die Probleme nur.
Gewalt und Abgrenzung schaffen keine Zukunft. Was wir wirklich brauchen, ist eine neue Basis des friedlichen Zusammenlebens – getragen von einer positiven Vision unserer Gesellschaften.
Einer Vision, die nicht auf Gewalt baut, sondern auf Güte, Vertrauen und Respekt. Die Kraft der Güte bedeutet nicht Schwäche. Sie bedeutet, Konflikte nachhaltig zu lösen, statt sie zu verschärfen. Sie bedeutet, die Stärke in Menschlichkeit und Miteinander zu erkennen.
Nur wenn wir diese Haltung fest in unserer Politik und Gesellschaft verankern, können wir die Herausforderungen unserer Zeit gemeinsam bewältigen und in eine gute Zukunft gehen.
Im österreichischen Dornbirn packt der Bürgermeister selbst an und verbannt kurzerhand Trennkeile aus Sitzbänken in seiner Gemeinde. Eine kleine Geste, die gegen Ausgrenzung vor allem wohnungsloser Menschen vorgeht, zeigt neue Wege für einen offenen Stadtraum auf. Empathischere sozialpolitische Maßnahmen als Alternative zu der von Expert:innen scharf kritisierten sogenannten „Defensiven Architektur“ haben vielerorts bereits beachtliche Erfolge erzielt.
Wer kennt es nicht: eine Nacht schlecht geschlafen, weil es zu laut war, die Matratze unbequem oder der Kopf voller Gedanken. Am nächsten Tag fühlen wir uns erschöpft, gereizt und unkonzentriert. Schlafmangel kann anstrengend sein, selbst dann, wenn am Abend ein sicheres Zuhause Ruhe ermöglicht. Doch was, wenn dieser Rückzugsort fehlt?
Für Menschen ohne festen Wohnsitz ist erholsamer Schlaf ein täglicher Kampf. Und es wird ihnen zunehmend schwerer gemacht – unter anderem durch sogenannte „Defensive Architektur“. Gemeint sind bauliche Maßnahmen, die gezielt verhindern sollen, dass sich Menschen im öffentlichen Raum ausruhen oder hinlegen. Sitzbänke mit Trennkeilen, kalte Metallstreben oder auch Lärm. Maßnahmen, die mehr mit Verdrängung als mit Stadtgestaltung zu tun haben.
Betonbänke vor dem Wiener Westbahnhof. Bild: Herzi Pinki – CC BY-SA 4.0Bolzen neben einem Hauseingang in Marseille. Bild: DC – CC BY-SA 3.0Betonbänke vor dem Wiener Westbahnhof. Bild: Frankie Fouganthin – CC BY-SA 4.0
Mit dem Akkuschrauber gegen soziale Ungerechtigkeit
Doch es geht auch anders, wie Dornbirns Bürgermeister Markus Fäßler jüngst eindrucksvoll gezeigt hat. Denn es braucht nicht immer große Reden, um einen Wandel einzuleiten, manchmal reicht ein einfacher Schraubenzieher.
In der österreichischen Stadtgemeinde setzte Fäßler ein starkes Zeichen, indem er eigenhändig Holzkeile von Sitzbänken am Bahnhof entfernte, die dazu gedacht waren, obdachlose Menschen vom Hinlegen abzuhalten. „Die Lösung mit den Holzkeilen war ein Schnellschuss und leider ungeschickt umgesetzt“, betonte Dornbirns Bürgermeister. Was viele Menschen kaum bewusst wahrnehmen, war für ihn ein Symbol der Ausgrenzung und dementsprechend nicht länger tragbar.
Dornbirns Bürgermeister Markus Fäßler schraubt Trennkeile ab. Bild: Stadt Dornbin
Die Trennelemente waren bereits im vergangenen Herbst in die Kritik geraten. Die Bänke wurden unter der vorherigen Stadtregierung angebracht, um ein „ordnungsgemäßes“ Stadtbild zu erhalten. Für Fäßler allerdings war das eine unglückliche und vor allem wirkungslose Maßnahme. Denn trotz der Keile lagen weiterhin obdachlose Menschen auf den Bänken. Verdrängung ist eben keine Antwort auf soziale Probleme.
„Eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe, welche aus Sozialarbeiter:innen, Polizei und Verkehrsunternehmen besteht, soll nun tragfähige Lösungen erarbeiten.“
Es gibt bessere Lösungen: Gemeinsames Gestalten statt Ausgrenzung
Doch der neue Bürgermeister belässt es nicht bei Kritik oder Symbolpolitik. Mit dem Entfernen der Keile kündigte er auch einen inhaltlichen Kurswechsel an. Statt auf Ausschluss setzt er auf gemeinsames Gestalten. Eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe, welche aus Sozialarbeiter:innen, Polizei und Verkehrsunternehmen besteht, soll nun tragfähige Lösungen erarbeiten, in der Absicht, niemanden aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen. Ziel ist es, den Bahnhof zu einem sicheren und lebenswerten Ort für alle zu machen, für Reisende ebenso wie für Jugendliche und Menschen ohne festen Wohnsitz.
„Es gibt andere Möglichkeiten, den Aufenthalt für die Fahrgäste beim Busbahnhof zu verbessern“, sagte Fäßler. So könnten beispielsweise zusätzliche Ansprechmöglichkeiten für Reisende geschaffen werden, begleitet von einer verstärkten sozialen Betreuung und sichtbarer Präsenz von Sicherheitskräften.
Die Initiative des Bürgermeisters deckt sich mit den Empfehlungen vieler Fachleute aus Architektur, Bautechnik und Bauforschung, die „Defensive Architektur“ als unwirksam ablehnen. Bart Urban, Experte für nachhaltigen Städtebau, nennt Maßnahmen gegen Wohnungslose wie Trennkeile gar eine „Augenwischerei“. Diese verdrängten kurzfristig wohnungslose Menschen, „langfristig lösen sie aber keine Probleme, sondern verschieben sie nur an andere Orte der Stadt“.
„Wer Orte für Menschen baut, bekommt auch sichere und lebendige Orte zurück.“
Bart Urban, Experte für nachhaltigen Städtebau
Stattdessen empfiehlt Urban einen ganzheitlicheren Denkansatz: „Wir müssen Plätze so gestalten, dass sie freundlich, zugänglich, schön und lebendig sind.“ Anstatt Menschen mit sozialer Härte zu verdrängen, erzielt dieser gütige Ansatz weltweit bereits erstaunliche Erfolge. Urban nennt Le Plessis-Robinson bei Paris als Beispiel: „Aus feindlichen, kargen Räumen wurde dort ein vitales Klein-Paris“.
Für Wohnungslose wurde hier, angelehnt an das Prinzip Housing First, möglichst viel günstiger sozialer Wohnraum geschaffen und auch an Menschen mit Schwierigkeiten vermittelt. Auch temporäre Unterkünfte, genannt „Solidaritätshäuser“, gehörten zum Konzept. Diese wurden bewusst nicht an den Rand gebaut, sondern in die Stadtteile integriert. „Und die Stadt wurde dadurch nicht nur schöner, sondern auch sicherer und sozialer“, sagt der Experte.
In einem Film auf YouTube dokumentiert Urban die Transformation. Seine Akademie The Aesthetic City möchte anhand solcher Lösungsbeispiele zum Beispiel engagierte Lokalpolitiker:innen mit Gestaltungswillen, wie Dornbirns Bürgermeister Markus Fäßler, bestärken. „Die Erfahrung zeigt: Wer Orte für Menschen baut, bekommt auch sichere und lebendige Orte zurück.“
„Defensive Architektur“ und ihre historischen Wurzeln
Dass öffentliche Räume wider besseres Wissen und allen gütekräftigen Alternativen zunehmend so gestaltet werden, dass sie bestimmte Menschen ausschließen, ist kein Einzelfall. Vor allem ist das Phänomen nicht neu: Die „Defensive Architektur“ reicht historisch bis in die 1960er Jahre zurück. In New York entstanden damals erste Konzepte des „Environmental Design“, um durch städtebauliche Maßnahmen Kriminalität zu verhindern.
Was einst dem Schutz vor äußeren Gefahren diente, richtet sich heute zunehmend gegen Menschen im eigenen städtischen Umfeld. Heute zeigt sich diese Haltung in Form von Armlehnen auf Bänken, spitzen Geländeelementen unter Brücken oder lauter Musik an Bahnhöfen.
Der Begriff „Defensive Architektur“ wurde im Jahr 2022 nicht ohne Grund auf Platz drei der „Unwörter des Jahres“ gewählt – als Ausdruck für eine menschenverachtende Praxis, die gesellschaftliche Probleme aus dem Blickfeld verbannen möchte, anstatt sie zu lösen.
Proteste in Hamburg und München gegen defensive Architektur
Auch in Deutschland formiert sich Protest, teils mit drastischen Mitteln. In Hamburg etwa sorgte der Rapper Disarstar vor wenigen Jahren für Aufsehen, als er öffentlich Metallbügel von einer Sitzbank absägte, welche das Liegen verhindern sollten. Stattdessen legte er eine Matratze mit Decke, Kissen und einer Blumenvase aus, als Zeichen gegen das, was er als „menschenfeindliche Stadtgestaltung“ kritisierte.
Und auch in München kam es zu Protestaktionen: Aktivist:innen schraubten am S-Bahnhof Marienplatz die Armlehnen von 23 Sitzbänken ab, um Schlafplätze zu schaffen. Damit wollten sie auf die systematische Ausgrenzung obdachloser Menschen im öffentlichen Raum aufmerksam machen.
Inklusive Architektur als vorausschauende Sozialpolitik
Vor diesem Hintergrund ist die Entscheidung des Dornbirner Bürgermeisters, städtebaulich menschlichere Wege zu gehen, nicht zuletzt auch politisch vorausschauend. Denn eine Investition in Architektur, die Begegnung ermöglicht und ein Zeichen der Inklusion setzt, ist erwiesenermaßen ein wichtiger Baustein für mehr sozialen Zusammenhalt in der Gemeinde.
Die Geschichte von Isaac Wright Jr. ist vielleicht eine der spannendsten und gütekräftigsten unserer Zeit: vom Musikproduzenten zum lebenslang Inhaftierten, vom Gefangenen zum Anwalt – und schließlich zum Hoffnungsträger für Unschuldige im ganzen Land.
In drei Teilen begleiten wir Wright Jr. bei seiner außergewöhnlichen Reise durch die Abgründe und Möglichkeiten des US-amerikanischen Rechtssystems. Wir erleben die nachhaltige Wirkmacht von Güte da, wo persönliche Entwicklung auch hinter Gefängnismauern ermöglicht wird, wo die Judikative sich selbst hinterfragt und schließlich Fehler offenlegt und korrigiert.
Wer ist der Mann, der trotz aller Widrigkeiten den Staat mit juristischen Mitteln zu einem gerechteren und versöhnlicheren transformierte?
Teil 1: Gefangen im Netz der Justiz
„Ich war ganz oben“, sagte Isaac Wright Jr. 2020 in einem Interview, als er auf seine eindrucksvolle Lebensgeschichte zurückblickte. „Ich hatte ein unabhängiges Plattenlabel, war verheiratet – mein Leben lief gut. Dann wurde alles auf den Kopf gestellt.“
Geboren 1962 in Orlando, Florida, verbrachte Wright seine Kindheit und Jugend an vielen verschiedenen Orten – unter anderem verschlug es seine Familie Ende der 60er auch zeitweise nach Bremerhaven an der deutschen Nordseeküste. Sein Vater war Soldat, die Familie zog dem Militärdienst hinterher. Zur Highschool ging Wright später in South Carolina.
Auf der Überholspur
In seinen Zwanzigern begann er in der Unterhaltungsbranche Fuß zu fassen. Zunächst trat er mit dem Tanztrio Uptown Express in der Fernsehsendung Star Search auf, einer populären US-Castingshow, die damals als Sprungbrett für Nachwuchstalente galt. Auch wenn der Auftritt nur wenige Wochen dauerte, öffnete er Wright die Tür zur Musikindustrie.
Kurz darauf gründete er sein eigenes Label, X-Press Records, und wurde Mitbegründer der Girlgroup The Cover Girls, deren Freestyle-Sound in den Clubs von New York und Miami gut ankam. Mit dabei: seine damalige Partnerin Sunshine, mit der er eine kleine Tochter hatte.
Gemeinsam managten sie die Gruppe, organisierten Auftritte, produzierten Musik. Der aufstrebende Musikunternehmer bewegte sich zunehmend sicherer in der Branche und baute auch Verbindungen zur aufkommenden Hip-Hop-Szene auf – unter anderem arbeitete er zeitweise mit Run-DMC zusammen. Es waren die Jahre, in denen vieles möglich schien – bevor alles plötzlich aus dem Ruder lief.
Ein einzelner Tag im Jahr 1989 und alles, was Isaac Wright Jr. sich aufgebaut hatte, zerbrach. Statt im Tonstudio landete er in einer Zelle. Statt mit Künstlern und Künstlerinnen an Hits zu feilen, saß er plötzlich mit Bandenmitgliedern und Gewalttätern hinter Gittern. Die Anklage: „Anführen eines Drogenhandelnetzwerks, Besitz von Kokain mit Vertriebsabsicht, Betreiben einer Produktionsstätte für Betäubungsmittel und Anstiftung zum Drogenhandel“. Das Urteil: „schuldig in allen Punkten der Anklage“. Die Folge: eine Freiheitsstrafe von mindestens 72 Jahren mit einer Bewährungsfrist von 30 Jahren.
Ein krasses Urteil, obwohl die Beweislage im besten Fall dünn war. Im Rahmen einer großangelegten Polizeiaktion in New Jersey wurde Wright Jr. am 25. Juli 1989 verhaftet. Die Festnahme war der Höhepunkt einer neunmonatigen Ermittlung mit dem Codenamen „Operation Bundle Man“, die von Staatsanwalt Nicholas Bissell Jr. geleitet wurde. Insgesamt wurden an diesem Tag elf Personen verhaftet. Die Ermittlungsbehörden warfen Wright Jr. vor, das Oberhaupt eines angeblich 20 Millionen Dollar schweren Kokainrings zu sein, der täglich etwa 3.000 Fläschchen Kokain in Somerset und Middlesex County verkauft habe.
Die Anklage stützte sich auf das sogenannte Kingpin-Gesetz, das 1986 eingeführt wurde, um gezielt Kingpins, also die Drahtzieher:innen krimineller Organisationen, zur Rechenschaft zu ziehen. Zuvor hatten sich Anführer:innen oft hinter ihren Mittelsleuten versteckt, während diese allein die strafrechtlichen Konsequenzen trugen. Das Gesetz sollte genau das ändern. In der Praxis jedoch wurde es zunehmend auch gegen Personen angewandt, ohne dass belastbare Beweise für ihre Führungsrolle vorlagen.
So auch im Fall Wright Jr. Es gab keine Drogenfunde, keine Überwachungsvideos, keine auffälligen Kontobewegungen. Stattdessen stützte sich die Staatsanwaltschaft auf Aussagen Mitangeklagter, denen im Gegenzug für eine Belastung Wright Jr.s Strafmilderung angeboten wurde.
Die Konstruktion eines Täters
Zwei Jahre saß Wright Jr. in Untersuchungshaft. Zwei Jahre Unsicherheit, Isolation und das Warten auf einen Prozess. Im Frühjahr 1991 war es so weit. Die Verhandlung dauerte nur wenige Wochen, das Urteil fiel extrem hart aus.
Den Ausschlag gab die Aussage des Kronzeugen Roberto Alexander. Er behauptete, Wright Jr. habe ein halbes Kilogramm Kokain von ihm erhalten. Dieses sollte innerhalb von zwei Wochen verkauft werden, Alexander sollte 3.000 Dollar dafür bekommen. Kurz nach der Übergabe auf offener Straße sei die Polizei eingeschritten und habe beide festgenommen.
Doch diese Geschichte war frei erfunden. Alexander hatte sich – wie auch andere Zeug:innen – unter Druck auf einen Deal mit der Staatsanwaltschaft eingelassen. Im Gegenzug machten sie belastende Aussagen gegen Wright Jr., um ihre eigene Strafe zu verringern. Jahre später widerriefen mehrere von ihnen ihre Aussagen.
„Da oben waren Leute, von denen ich keine Ahnung hatte, wer sie waren. Ich hatte sie noch nie in meinem Leben gesehen, und sie zeigten mit dem Finger auf mich und sagten, ich sei ihr Boss“, erinnerte sich Wright Jr. im Jahr 2020 an die Verhandlung gegen ihn.
Richter Leonard Arnold bezeichnete das Vorgehen der Strafverfolgung schließlich als massiven Verstoß gegen die Grundprinzipien der Gerechtigkeit. Doch zu diesem Zeitpunkt saß Wright bereits mehrere Jahre lang hinter Gittern – ohne Aussicht, jemals wieder freizukommen.
Systemfehler mit System
Was Wright Jr. widerfuhr, war und ist bis heute in den USA kein Einzelfall. Es ist Ausdruck eines Justizsystems, das auf Schuldsprüche optimiert ist – nicht auf Gerechtigkeit. Staatsanwält:innen werden an ihrer Erfolgsquote gemessen, also an der Zahl der Verurteilungen. Wer sich keine private Verteidigung leisten kann, muss sich auf staatlich bestellte Pflichtverteidiger:innen verlassen. Doch diese sind meist überlastet, unterbezahlt und haben kaum Zeit, sich gründlich vorzubereiten.
Besonders brisant: In den meisten Strafprozessen entscheiden Laien-Jurys – zwölf Bürger:innen ohne juristische Ausbildung. Sie müssen oft auf Basis lückenhafter Informationen ein Urteil fällen. Wer da nicht gut vertreten ist, verliert schnell den Zugang zur eigenen Geschichte.
In diesem Umfeld sind sogenannte Plea Bargains der Normalfall: Deals, bei denen Angeklagte im Gegenzug für ein Geständnis eine mildere Strafe erhalten. Etwa 90 Prozent aller Strafverfahren in den USA enden so – auch bei Unschuldigen, die aus Angst vor drakonischen Mindeststrafen ein falsches Geständnis ablegen.
Isaac Wright Jr. jedoch schlug einen Deal aus. Er wusste, dass er unschuldig war, und vertraute auf die Gerechtigkeit. „Ich bin kein Kingpin. Ich habe das nicht getan. Ich werde niemanden dafür bezahlen, mich ins Gefängnis zu schicken.“ Damit blieb er sich selbst treu – auch wenn der Preis zunächst hoch zu sein schien.
„Ich traf mich mit dem Gefängnisdirektor und bot ihm an, die Rechtsbibliothek kostenlos zu leiten, da ich wusste, dass ich dadurch ständigen Zugang zu dem Raum und seinen Büchern haben würde. Damit öffneten sich mir alle Türen. Mein ganzes Leben – vom Frühstück bis zum Zapfenstreich – würde nun vom Recht bestimmt sein.“
Der Wendepunkt: Lernen im Innersten des Systems
Doch der wichtigste Kampf in Wright Jr.s Leben sollte nicht seine Gerichtsverhandlung bleiben. Im Gefängnis wurde es ihm ermöglicht, zu lernen und sich weiterzubilden, und diese Chance nutzte er: Er las juristische Texte, analysierte Präzedenzfälle und studierte Prozessrecht. Dabei kam ihm zugute, dass in den USA die meisten größeren Gefängnisse Bibliotheken haben. Das Gefängnis, in dem Wright Jr. saß, hatte sogar eine eigene Rechtsbibliothek. Und gleich in der Anfangszeit seiner Untersuchungshaft im Somerset County Jail bot sich ihm eine ganz besondere Gelegenheit, die er sofort beim Schopfe ergriff, wie er in seiner Biografie schildert:
„Als das Wetter kälter wurde und der erste Winter näher rückte, hatte ich endlich einmal Glück. Der Rechtsbibliothekar wurde versetzt, und das Gefängnis wollte niemanden für diese Arbeit bezahlen. Ich traf mich mit dem Gefängnisdirektor und bot ihm an, die Rechtsbibliothek kostenlos zu leiten, da ich wusste, dass ich dadurch ständigen Zugang zu dem Raum und seinen Büchern haben würde. Damit öffneten sich mir alle Türen, denn statt nur vereinzelte Stunden zu bekommen, hatte ich nun sieben Tage die Woche von morgens bis abends Zugang zur Bibliothek. Mein ganzes Leben – vom Frühstück bis zum Zapfenstreich – würde nun vom Recht bestimmt sein.“
Anfangs studierte Wright Jr. das Recht nur, um seine eigene Situation zu begreifen. Doch bald schon wandte er seine theoretischen Kenntnisse praktisch an und begann, sich selbst zu vertreten. Zu Beginn seiner regulären Haftstrafe im New Jersey State Prison schloss er sich dann der Inmate Legal Association an, einer juristischen Selbsthilfegruppe im Gefängnis, für die er als sogenannter Paralegal Mitinsassen bei Anträgen und Berufungen unterstützte. Seine Kollegen von der Association hatten ihn bereits bei seiner Ankunft erwartet, da sein Ruf ihm vorausgeeilt war.
„Es war ungewöhnlich, dass sich ein Angeklagter in einem so wichtigen Fall selbst vertrat, noch dazu gegen den Bezirksstaatsanwalt. Als mein Urteil gefällt wurde und sie erfuhren, dass ich nach Trenton kommen würde, bereiteten sich die Paralegals darauf vor, mich für ihr Team zu gewinnen.“
Hebel zur Gerechtigkeit für Isaac Wright Jr.
Bei seinem Selbststudium machte Wright Jr. schließlich eine entscheidende Entdeckung: Die Geschworenen in seinem Prozess waren nicht ordnungsgemäß darüber informiert worden, dass das Kingpin-Gesetz von New Jersey nur dann eine Verurteilung erlaubt, wenn eindeutig nachgewiesen wird, dass jemand eine führende Rolle im Drogenhandel innehatte. In der Praxis reichte es jedoch oft aus, dass Angeklagte nur lose mit einem Drogenring verbunden waren – unabhängig von einer tatsächlichen Führungsposition. So wurden auch Randfiguren oder Unschuldige wie Wright Jr. mit der Höchststrafe belegt.
Dieser Fund beflügelte ihn. Das Gesetz, das ihn abrupt und für Jahre von Sunshine und seiner kleinen Tochter getrennt hatte, das ihn seine Freund:innen und seine Karriere als Musikproduzent gekostet hatte, dieses Gesetz war angreifbar. Wright Jr. schwor sich, fortan gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen. Seine neue Erkenntnis sollte dabei zum juristischen Hebel werden, mit dem er nicht nur seine eigene Verurteilung, sondern bald auch das Kingpin-Gesetz selbst ins Wanken brachte.
Teil 1 endet hier. Doch der Weg von Isaac Wright Jr. vom juristischen Autodidakten zum Symbol eines längst überfälligen Systemwandels beginnt erst noch.
Wie er sich selbst befreite und das System von innen heraus zum Besseren veränderte, zeigt Teil 2 dieser Serie.
Acht bis zehn Quadratmeter – so groß ist eine durchschnittliche Zelle für Untersuchungshaft in Deutschland. In der Zelle gibt es meist ein Bett, einen Tisch, einen Stuhl, einen Schrank, ein Waschbecken, einen Mülleimer und eine Toilette. Die Fenster sind vergittert, die massiven Türen verschlossen. Eine Stunde pro Tag dürfen Menschen in U-Haft nach draußen. Ansonsten warten Inhaftierte meist drei bis zwölf Monate lang auf den Beginn ihres Prozesses.
In Europa befinden sich Hunderttausende Menschen in Untersuchungshaft – ohne Verurteilung, manchmal nur wegen fehlender Alternativen. Das hat schwerwiegende Folgen für Betroffene, besonders sozial Benachteiligte.
Dabei gibt es mildere und effektivere Mittel wie den elektronisch überwachten Hausarrest. Expert:innen sehen darin eine echte Chance für mehr Menschlichkeit im Stafvollzug. Hessen gilt hier deutschlandweit als Vorreiter; das Justizministerium zieht eine positive Bilanz.
Wer hier sitzt, gilt vor dem Gesetz als unschuldig. Die U-Haft soll sicherstellen, dass jemand zur Verhandlung erscheint oder Beweise nicht manipuliert werden. Auch der Schutz der Bevölkerung vor möglichen Straftaten der Beschuldigten soll durch die U-Haft gewährleistet werden. Doch U-Haft bedeutet auch einen extremen Eingriff in die Rechte und das Leben der Beschuldigten.
Ein Blick hinter die Gitter der Untersuchungshaft
Etwa 12.000 Menschen sitzen in Deutschland in U-Haft. Angeordnet wird sie in der Regel bei Fluchtgefahr, Gefahr der Vernichtung von Beweismitteln oder dem Verdacht auf weitere Straftaten. Besonders häufig wird Fluchtgefahr bei Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit oder fehlendem familiären Rückhalt unterstellt. Sozial und gesellschaftlich benachteiligte Menschen sitzen oft wochen- oder monatelang in Haft, ohne dass ein Urteil gesprochen wurde – nicht selten wegen Bagatelldelikten wie Schwarzfahren oder Ladendiebstahl.
Dabei zeigen jüngste Erkenntnisse aus der internationalen Forschung: Schon ein einzelner Tag in Untersuchungshaft kann erhebliche und lang anhaltende Folgen haben, etwa den Verlust von Arbeitsplatz, Wohnung oder Therapiezugang oder psychische Belastungen. Besonders alarmierend ist das stark erhöhte Suizid- und Sterberisiko in den ersten Tagen hinter Gittern.
Die Drastik des Rechtsmittels wird zusätzlich vor dem Hintergrund diverser Studien kritisiert, die zeigen, dass 42 Prozent aller U-Haft-Fälle in milden Strafen wie Geldbußen, Bewährung oder Freisprüchen enden. Auch die Fluchtgefahr stellt sich in 92 Prozent der Fälle als falsch heraus.
Darüber hinaus verfehlt die U-Haft häufig ihre beabsichtigte Wirkung: Sie steigert das Risiko erneuter Straftaten und verringert sogar die Wahrscheinlichkeit, dass Beschuldigte vor Gericht erscheinen. Der soziale Druck in der Haft führt zudem zu übereilten Geständnissen – oft Unschuldiger.
Elektronische Fußfessel als menschlichere Alternative
Strafrechtler wie Prof. Hans-Jörg Albrecht warnen daher, die Untersuchungshaft untergrabe die Fairness eines Verfahrens und sollte nur mit äußerster Zurückhaltung angewandt werden. Seit langem fordert er stattdessen weniger drastische Ermittlungsmaßnahmen. Als eine geeignete Alternative hat sich die elektronische Fußfessel herausgestellt, die bereits als etabliertes Mittel zur Vermeidung von Untersuchungshaft gilt. Sie sei als „milderes Mittel“ ein „Erfolgsmodell“, weil vergleichsweise wenig in das Leben der Betroffenen eingegriffen würde und sie nicht an den Pranger gestellt werden würden, sagte Albrecht.
Er war zur Zeit des ersten Modellversuchs Anfang der 2000er Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg, das den Versuch in Hessen wissenschaftlich begleitete. Hessen gilt als Vorreiter in dem Bereich, schon ab 2007 führte das Bundesland die Präsenzkontrolle mit elektronischer Fußfessel flächendeckend ein.
Der Erfolg der Fessel liegt darin, im Vergleich zur Haft weniger stark in das Leben der Betroffenen einzugreifen – sie verlieren nicht automatisch Wohnung, Job oder soziale Bindungen. Gleichzeitig minimiert die Fußfessel das Fluchtrisiko und kann so die Teilnahme an bevorstehenden Prozessterminen sichern. Darüber hinaus ermöglicht die Fußfessel die genaue Ermittlung von Standort und Bewegungsmustern der Beschuldigten – etwa zum Schutz potenzieller Opfer.
Auch weitere Expert:innen betonen die Vorteile: Der elektronisch überwachte Hausarrest könne spezialpräventiv wirken, also einer Rückfallkriminalität vorbeugen – und das ohne die negativen Folgen der U-Haft. Zwar eigne sich das Modell nicht für alle, da etwa eine feste Wohnanschrift erforderlich ist. Doch wer die Voraussetzungen erfüllt, profitiere spürbar.
„Es hat sich gut bewährt, es gab bislang keinerlei Vorfälle bei denjenigen, die mit der spanischen Fußfessel geschützt wurden“.
Christian Heinz, Justizminister Hessen
Erfolg in Hessen mit spanischem Modell
Inzwischen geht es bei der Fußfessel nicht mehr nur um die Kontrolle der Präsenz einer Person an einem bestimmten Ort, wie beim Hausarrest, sondern es können auch Bewegungen mittels der elektronischen Aufenthaltsüberwachung nachverfolgt werden. Im Fokus steht dabei die Fußfessel nach dem spanischen Modell: Hierbei tragen Täter:innen eine GPS-basierte Fußfessel, die in Echtzeit mit einem GPS-Gerät der Opfer kommuniziert, um Schutz bei häuslicher Gewalt und Stalking sicherzustellen. In Spanien hat die Methode bereits Wirkung im Kampf gegen Femizide gezeigt: Laut dem Innenministerium des Landes kam es seit der Einführung bei keinem der rund 13.000 Fälle zu einer Tötung.
„Es ist an der Zeit, dass wir dieses Instrument auch in Deutschland flächendeckend einsetzen, um insbesondere Frauen vor häuslicher Gewalt zu schützen.“ Stefanie Hubig, Bundesjustizministerin
Und auch das hessische Justizministerium zog nach einem halben Jahr der Nutzung bereits eine positive Zwischenbilanz. Mit der verbesserten technischen Erfassung war die Zahl der registrierten Vorfälle seit Einführung der neuen Technik, etwa bei Verstößen gegen Annäherungsverbote, zwar um etwa ein Drittel gestiegen. Konkrete Übergriffs- oder Angriffsversuche habe es trotzdem nicht gegeben. „Es hat sich gut bewährt, es gab bislang keinerlei Vorfälle bei denjenigen, die mit der spanischen Fußfessel geschützt wurden“, sagte Hessens Justizminister Christian Heinz.
Aktuell arbeitet das deutsche Bundesjustizministerium an einer deutschlandweiten Implementierung des Modells im Rahmen einer Erweiterung des Gewaltschutzgesetzes – vor allem zur Aufenthaltsüberwachung in Hochrisikofällen. „Elektronische Fußfesseln können Leben retten. Das zeigen die Erfahrungen in Spanien“, sagte Bundesjustizministerin Stefanie Hubig. „Es ist an der Zeit, dass wir dieses Instrument auch in Deutschland flächendeckend einsetzen, um insbesondere Frauen vor häuslicher Gewalt zu schützen.“
Neben dem Schutz von potenziellen Opfern sieht die geplante Gesetzesänderung auch die Möglichkeit der Anordnung von Anti-Gewalt-Trainings für Täter:innen vor. Diesen sollen dadurch Lösungswege aufgezeigt werden, Konflikte künftig gewaltfrei zu lösen. TERRE DES FEMMESbegrüßt diese Pläne. „Es braucht natürlich trotzdem ein Zusammenspiel von Verfahren, die Fußfessel allein reicht nicht aus“, sagte Christa Stolle, Bundesgeschäftsführerin der Frauenrechtsorganisation. Die Trainings seien „als flankierende Maßnahme sehr wichtig“.
Ein europäischer Ansatz für mehr Menschlichkeit
Ohnehin ist die Fußfessel nur eine Option unter vielen, um Täter:innen wie Opfern mit mehr Güte zu begegnen: Gerichtshilfe-Modelle, psychosoziale Begleitung oder gemeinnützige Arbeit können je nach Einzelfall ebenfalls dazu beitragen, Haft zu vermeiden. Entscheidend ist, dass Alternativen nicht pauschal ausgeschlossen, sondern individuell geprüft und professionell umgesetzt werden.
Im europäischen Kontext wurde mit PRE-TRIAD (Pre-Trial Detention – Reducing the Use of Pre-Trial Detention) dazu ein länderübergreifendes Netzwerk gegründet, das sich von 2020 bis 2022 intensiv mit der Frage befasste, wie unnötige Untersuchungshaft vermieden werden kann – insbesondere bei Bagatelldelikten, oder wenn keine Fluchtgefahr besteht.
Das Projekt wurde von der Europäischen Kommission und dem Bundesministerium für Justiz finanziert. Beteiligt waren juristische und soziale Organisationen aus mehreren Ländern, darunter Strafverteidiger:innen, Menschenrechtsorganisationen, Universitäten sowie Justizministerien. PRE-TRIAD untersuchte, warum U-Haft in vielen europäischen Ländern trotz bestehender Alternativen häufig angeordnet wird.
Im Fokus standen gesetzliche Rahmenbedingungen, gerichtliche Begründungsmuster und strukturelle Hindernisse. Ziel war es, ein europäisches Problembewusstsein zu schaffen, Handlungsspielräume aufzuzeigen und Fachwelt sowie Politik für alternative Maßnahmen zu sensibilisieren. Auch Fortbildungsangebote für Justizakteur:innen waren Teil der Strategie.
Weitere gütekräftige Alternativen zur U-Haft und Workshops für Jurist:innen
In diesem Zusammenhang prüfte PRE-TRIAD auch die Praxistauglichkeit der Alternativen zum Freiheitsentzug. Ein wichtiger Baustein waren Sozialarbeiter:innen, die bei der Wohnungssuche helfen, Kontakt mit Familie und Arbeitgeber:innen halten, Beratungsgespräche führen oder psychische Stabilisierung anbieten. So werden stabile Lebensverhältnisse gefördert – eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass Beschuldigte auch ohne U-Haft zuverlässig zu Gerichtsterminen erscheinen können.
Weitere Bausteine sind Meldeauflagen, die Verpflichtung zu regelmäßigen Gesprächen oder die Unterstützung durch Sozialdienste. Die Menschen behalten ihre Lebensgrundlage – Wohnung, Familie, Arbeit – und damit die Chance auf einen stabilen Alltag.
Das Projekt legte darüber hinaus offen, dass es in Europa große Unterschiede beim Einsatz von Untersuchungshaft gibt,etwa bei den Haftgründen, der Dauer oder der Verfügbarkeit von Alternativen. U-Haft wird häufig nicht aus einer Notwendigkeit heraus, sondern aufgrund von Unsicherheit, fehlenden Wissens oder Routine angeordnet. Viele Richter:innen greifen zur U-Haft, obwohl mildere Maßnahmen zur Verfügung stünden. Hier setzte das Projekt gezielt an, um Wissen über Alternativen zu verbreiten und Vertrauen in deren Wirksamkeit zu stärken.
In mehreren nationalen und internationalen Workshops und Schulungen für Justizpersonal sowie durch die Veröffentlichung von Studien und Leitfäden wurden wurden Handlungsspielräume aufgezeigt und Richter:innen, Staatsanwält:innen und Strafverteidiger:innen über bestehende Alternativen zur U-Haft informiert.
Konsequent weiterdenken
Der elektronische Hausarrest ist kein Allheilmittel, doch sein erfolgreicher Einsatz in Hessen und auch in anderen Ländern wie Spanien zeigt: Gütekräftige Alternativen zur U-Haft sind möglich und wirksam.
Organisationen wie Fair Trials weisen darauf hin, dass europaweit weiterhin zu oft auf Untersuchungshaft zurückgegriffen wird und fordert deshalb, dass Staaten U-Haft als letztes Mittel einsetzen und Alternativen verbindlich prüfen. Gleichzeitig braucht es europaweite Standards und regelmäßige Haftprüfungen, um Transparenz und Fairness sicherzustellen.
Reformen allein werden dafür nicht ausreichen. Um unnötige Inhaftierungen zu vermeiden, muss auch die Prävention gestärkt werden: Sozialarbeit, Bildungsangebote und psychologische Unterstützung können helfen, dass es in vielen Fällen gar nicht erst zu Straftaten kommt.
Alles begann mit Schulessen für Kinder im kolumbianischen Bürgerkrieg. Zwanzig Jahre später schaffen es David Höner und seine Cuisine sans Frontières, dass mancherorts sogar Soldaten und Rebellen für eine Mahlzeit ihre Waffen niederlegen und miteinander ins Gespräch kommen.
Ihren Ansatz der Küchendiplomatie setzt die Küche ohne Grenzen in den größten Krisenregionen weltweit um. Dort fördern Wirtshäuser, Restaurants und haushaltswirtschaftliche Ausbildungsstätten berufliche Perspektiven ebenso wie Begegnung und gewaltfreien Austausch zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren.
David Höner ist Jahrgang 55, aber wenn es um die Projekte seiner Cuisine sans Frontières geht, berichtet er mit der Begeisterung eines jungen Mannes, der die Küchendiplomatie gerade erst für sich entdeckt hat. Dabei gründete der gelernte Koch vor zwanzig Jahren bereits einen ehrenamtlichen Verein, dessen erstes Projekt der Aufbau einer Gemeinschaftsküche mitten im kolumbianischen Bürgerkrieg war. Seitdem sind viele Freiwillige zur „Küche ohne Grenzen“ dazugekommen, die in unterschiedlichen Krisen- und Kriegsgebieten weltweit mit lokalen Partnerorganisationen Räume der Begegnung durch gemeinsames Essen und Kochen schaffen.
FLORIAN VITELLO: David, ich erreiche dich im Zuge eines Events von Cuisine sans Frontières (CsF), ausnahmsweise heute in deiner Schweizer Heimat.
DAVID HÖNER: Ja, genau. Vor zwanzig Jahren haben meine Frau und ich beschlossen, nach Ecuador auszuwandern. Das Land war lange ein Hort des Friedens.
VITELLO: Bis vor kurzem hagelte es gute Nachrichten aus Ecuador. Im Moment ist die Gesellschaft aber in einer tiefen Krise. Die Cuisine sans Frontières arbeitet dort heute mit indigenen Gruppen und staatlichen Akteuren. Wie kamst du ursprünglich auf die Idee, soziale Themen diplomatisch über Essen anzupacken?
HÖNER: Ich bin gelernter Koch, habe auch lange in dem Beruf gearbeitet, mich dann aber als Quereinsteiger auf Food-Journalismus spezialisiert. Der Fokus meiner Berichterstattung lag auf der Produktion qualitativ hochwertiger Lebensmittel. Eine größere Schweizer Zeitung beauftragte mich 2005, eine Reportage über Sprühflugzeuge im kolumbianischen Putumayo zu machen.
„Wie kann man die Zivilgesellschaft so unterstützen, dass die Leute wieder miteinander in Kontakt kommen und sich über Lösungen für ihre Probleme austauschen?.“
Das wurde damals offiziell im Rahmen des „War against Drugs“ (Krieg gegen Drogen) legitimiert. Tatsächlich ging es darum, die kolumbianische Guerilla zu bekämpfen. Die Kämpfe und die Sprühaktionen zerstörten vor allem jedoch die zivile Infrastruktur. Will heißen, am Konflikt Unbeteiligte trauten sich gar nicht mehr vor die Türe. Ganze Familien vereinsamten. Auch das Ackerland wurde in Mitleidenschaft gezogen. Bauern gerieten in Abhängigkeit und wurden von allen Kriegsfronten missbraucht. Das war und ist bis heute eine unglaubliche Tragödie.
Ich kam entsprechend erschrocken zurück, habe die Reportage geschrieben und mich gefragt: „Wie könnte man die Zivilgesellschaft so unterstützen, dass die Leute wieder miteinander in Kontakt kommen und sich über Lösungen für ihre Probleme austauschen?“ Mit befreundeten Gastronomen in der Schweiz habe ich dann gesagt: „Lass uns doch da ein Restaurant aufmachen, wo die Zivilgesellschaft am meisten leidet.“
VITELLO: Weshalb der gastronomische Ansatz?
HÖNER: Das lag nahe, weil für uns ein Restaurant viel mehr ist als nur ein Ort, um Essen und Trinken zu sich zu nehmen. Im Restaurant begegnen sich Menschen. Und diese Begegnungen wollten wir im Krisengebiet möglich machen, damit Dialoge zwischen Konfliktparteien entstehen. Das war etwas großspurig und naiv von uns.
VITELLO: Das Ziel ist zweifelsohne ambitioniert, aber warum naiv, wenn es funktioniert hat? Ihr habt später sogar mit politischen Vertreter:innen gearbeitet.
HÖNER: Es hat funktioniert, aber nicht so, wie wir uns das blauäugig vorgestellt hatten. Zuallererst brauchten wir einen Kontakt vor Ort. Ich hatte das enorme Glück, noch in Kolumbien die großartige Claudia Quartas, damals Bürgermeisterin von Apartaló, kennengelernt zu haben. Sie war überzeugt, sollte das Unterfangen gelingen, müssten wir in einer kleinen Friedensgemeinschaft namens San Josecito beginnen. (Ein mit Friedenspreisen prämiertes Dorf, das sich 1997 der Gewaltfreiheit verschrieb: Waffen werden nicht geduldet, Alkohol im Dorf ist verboten, und es werden keine Informationen an bewaffnete Gruppen weitergegeben). Claudia Quartas hat uns dann vermittelt.
Zweitens war unsere ursprüngliche Idee, ein Restaurant zu errichten, in dem wir das Essen gegen einen kleinen Beitrag abgeben. Wir haben aber sofort gemerkt, dass die Leute wirklich praktisch gar kein Geld hatten. Und dann haben wir begonnen, uns mit dem Dorfrat zu beraten, der uns am Anfang sehr misstrauisch gegenüberstand. Die wussten natürlich nicht genau, was wir eigentlich wollen. Aus der anfänglichen Skepsis ist aber sehr schnell ein Vertrauensverhältnis entstanden.
VITELLO: Mir scheint, ihr habt schnell eine Strategie gefunden, die bis heute wegweisend ist: Claudia Quartas war die perfekte politische Partnerin. In der aktuellen Regierung ist sie verantwortlich für die Umsetzung des Friedensabkommens.
Auch wer bei euch ein neues Projekt vorschlagen will, muss passende lokale Partner:innen mitbringen. Damit habt ihr euch schon früh bewusst von alten Strukturen gelöst, in denen westliche Geldgeber allein über die Verwendung von Hilfsmitteln bestimmen.
Wie findet ihr den Zugang zu engagierten, verlässlichen Politiker:innen, Aktivist:innen oder Organisationen vor Ort?
HÖNER: Ganz oft sind es die Kinder. Im ersten Projekt war das auch so. Wir sind damals zu dritt auf eigene Kosten nach San Josecito. Im Gepäck hatten wir 16.000 Schweizer Franken Jahresbudget, die wir bei Freunden und Familie als Spenden eingesammelt hatten. Die haben wir direkt eingesetzt, um eine kleine Schulküche zu bauen. Denn es gab dort viele Kinder, die ihre Eltern verloren hatten, und um die sich die Gemeinschaft gekümmert hat.
Für die haben wir dann Mittagessen gekocht. Im nächsten Schritt haben wir die Küche auch abends für die Erwachsenen geöffnet. Das Abendessen haben wir aus ganz bescheidenen Sachen gemacht, also wie in Kolumbien üblich, aus Reis und Bohnen, Mais oder ein bisschen Fleisch, wenn es welches gab.
Wir haben bewusst nicht unsere Küche dahin getragen, sondern mit lokalen Produkten gearbeitet. Das kam wahnsinnig gut an, weil die Leute unter Dauerstress gearbeitet haben. Die wenigen Felder, die sie noch hatten, waren zum Teil vermint; die Produktion reichte nicht, um ihre Familien zu ernähren, und genügend Geld zum Einkaufen war auch nicht da. In dem Dorf lebten damals etwa 80 Familien. Und da konnten wir mit unserem Abendessen ein bisschen helfen.
VITELLO: Haben die Menschen das Angebot angenommen?
HÖNER: Ja, sie wussten schließlich, dass wir auch für die Kinder kochen. Wir haben die Gemeinschaftsküche dann um 17 Uhr geöffnet und erst um 20.30 Uhr wieder geschlossen, denn die Leute kamen zu einem richtigen Treff zusammen. Daraus ist dann mit der Zeit ein echtes kleines Dorfrestaurant und eine Dorfkneipe entstanden. Das hat uns bestätigt, dass unser Konzept funktioniert.
Wir waren vier Monate da und haben im Laufe der kommenden Jahre immer wieder Volunteers hingeschickt. Wir haben die Leute dann zunehmend darum gebeten, uns Lebensmittel zu geben, die wir verarbeiten können. Sie haben einfache Produkte wie Yucca und Kochbananen oder etwas Reis mitgebracht. Wir haben Öl oder Salz dazu gekauft und gekocht. So ist eine Art Tauschwirtschaft entstanden, vor allem auch mit Arbeit.
VITELLO: Heißt, wer weder Feld noch Geld hatte, konnte mitkochen und dann mitessen?
HÖNER: Richtig, das war besonders für die Frauen wichtig. Wir haben einen Küchenplan gemacht, in dem verschiedene Leute aus der Dorfgemeinschaft nach und nach für das Essen zuständig waren. Und wir sind dann zum Beispiel mit einem Auto einkaufen gefahren. Auch hier zeigt sich wieder unsere Naivität – wir wussten nicht, wie gefährlich das war! Das haben wir komplett unterschätzt.
Aus dem Küchenplan wiederum entwickelte sich ein richtiges Hauswirtschaftsprojekt, in dem nicht nur das Kochen, sondern auch Abläufe und Strukturen, Menüplanungen und Kostenkalkulation gelernt werden konnten. Die Unterstützung im Dorf wurde so immer größer. Es gab da einen Jesuiten, Padre Javier Giraldo. Der wurde später Mitglied der Wahrheitskommission zur Aufarbeitung der Kriegsverbrechen während des Bürgerkrieges. Aber damals betreute er die Friedensgemeinschaft San Josecito und unserem Projekt hat er ein super Zeugnis ausgestellt. Das war ein Durchbruch. So konnten wir das Projekt schließlich an die Frauen übergeben, die bei uns arbeiteten.
VITELLO: Wie schwer ist es euch gefallen, das Projekt aus der Hand zu geben?
HÖNER: Überhaupt nicht. Ich finde, das ist das Wichtigste, dass Hilfsprojekte irgendwann zum Selbstläufer werden. Das hat mich glücklich gemacht. Außerdem wussten wir jetzt, dass unser Ansatz funktioniert und auch wie er funktioniert. Da haben wir direkt das nächste Projekt in Brasilien geplant, mit der Organisation von Sem Terra, also den Landlosen in Salvador de Bahia. Die lebten auf einem großen besetzten Gelände außerhalb der Stadt, das waren eigentlich Favelas.
VITELLO: Die Länder und Gemeinschaften sind teils sehr unterschiedlich – inwiefern seid ihr in Brasilien wieder genauso vorgegangen wie in Kolumbien?
HÖNER: Die Ausgangslage ist natürlich immer eine andere, aber wir hatten mit Cuisine sans Frontières eigentlich fast überall auf der Welt die gleiche Herangehensweise: Niedrigschwellig anfangen, zum Beispiel kochen für Kinder, und dann die lokale Bevölkerung einbeziehen. Häufig finden sich auch strategische Partner in der Politik oder Geldgeber vor Ort. In Brasilien haben wir mit den Guerrieras sem Teto gearbeitet, einer Frauengruppe, die leer stehende Gebäude und Flächen für wohnungslose und arme Menschen nutzbar macht.
Irgendwann kamen die ersten Anfragen von staatlichen Entwicklungshilfe-Organisationen. Wir haben später in Kolumbien noch ein Projekt hochgezogen, dann kam eine Schulküche im Kongo dazu und eine Anfrage aus Kenia. In den letzten Jahren haben wir auch mit geflüchteten Menschen gearbeitet in Griechenland und es sind Projekte im Libanon entstanden.
VITELLO: Die Liste der Einsatzorte wurde immer länger, aber finanziert habt ihr das Ganze vor allem aus Spenden. In der Schweiz sind eure Veranstaltungen legendär, bei denen berühmte Köch:innen gegeneinander antreten. Dafür zahlen die Besucher:innen gerne und spenden großzügig.
Ihr könntet auch vermehrt auf große staatliche Fördertöpfe setzen, stattdessen sucht ihr eher strategische Partnerschaften in der Lokalpolitik. Und auch vor Ort setzt ihr nicht auf Sterneküche, sondern simple regionale Gerichte – warum?
HÖNER: Weil ein ganz wichtiger Bestandteil der Arbeit, um über Essen Frieden zu schaffen, für uns bei Cuisine sans Frontières darin besteht, sich an die Essgewohnheiten der Menschen anzupassen. Da gilt das alte Sprichwort: „Was der Bauer nicht kennt, isst er nicht“. Wenn ich jetzt mit meiner internationalen Ausbildung als Koch in der Schweiz oder in Deutschland den Brasilianer:innen Köstlichkeiten der internationalen Gastronomie auf den Teller bringe, sind die Menschen skeptisch und überfordert. Sie wünschen sich stattdessen eine Feijoada, einen Bohneneintopf.
Wenn das Nationalgericht komplett, also in der reichhaltigsten und aufwendigsten Variante zubereitet wird, werden traditionell Trockenfleisch, Räucherwürstchen, Zunge, Schweineohren und -füße, Nelken, Lorbeer, ganze schwarze Pfefferkörner, Knoblauch und Zwiebeln zusammen eingekocht; dazu werden Reis, Blattkohl, Orangenscheiben, geröstetes Maniokmehl und eine Pfeffersoße gereicht. Für die Menschen ist das ein absolutes Festessen. Das kann man sich aber gar nicht jeden Tag leisten.
Darum arbeitest du dann viel mit Bohnen und Reis oder Fladen aus Maisbrei. Eben mit dem, was die Leute lieben und täglich essen. Wir haben anfangs fünf Tage die Woche traditionell gekocht und zwei Tage versucht, unsere Kochkunst anzubieten. Das hat nicht funktioniert. Das wollte niemand. Außer bei Pizza. Pizza funktioniert immer. Sei es in der Wüste, im Regenwald oder auf einer Mittelmeerinsel.
VITELLO: Woran liegt das, dass die Menschen etwas, was sie noch nicht kennen, nicht annehmen?
HÖNER: Essen ist nicht nur Hungerbefriedigung. Essen ist ein Kulturgut und nicht zuletzt Identität. Ich bin selber in der Schweiz auf dem Land mit ganz bestimmten Fruchtkuchen aufgewachsen, die kamen aus der Region. Unser Essen war oft noch so, wie es sein sollte: Regional und saisonal. Man wird dann auch stolz auf seine eigenen Spezialitäten und freut sich darüber. Wenn ich meinen Nachbarn sage, sie sollen jetzt Glasnudeln mit geschnittenem Chinakohl essen, dann lehnen sie das auch dankend ab.
In den Projekten der Cuisine sans Frontières geht es nicht darum, Menschen das Kochen beizubringen, das können sie selber. Aber, das hat sich von Projekt zu Projekt gezeigt: Die Menschen dabei zu unterstützen, das Eigene anzubieten – sich zu organisieren, sodass keine Lebensmittel verloren gehen, Wochenpläne zu erstellen, Resteverwertung, das sind die ersten und wichtigsten Ausbildungsschritte, um ein Projekt auch wieder zu übergeben und Frieden durch Küchendiplomatie möglich zu machen.
„Entgegen größerer innerer Widerstände haben wir dann beim lokalen Militärkommando angefragt und die haben uns einen Lastwagen voll Soldaten geschickt. Die waren letztendlich auch einfach da und haben genau wie alle anderen gegessen und getrunken.“
VITELLO: Die Tage erst ist es wieder so weit, dann zieht sich Cuisine sans Frontières im Northwest Rift Valley in Kenia zurück. Der Konflikt dort zwischen Angehörigen der Pokot und der Turkana, zweier großer ethnischer Gruppen, wurde noch lange nach der britischen Kolonialzeit aufgeheizt, indem die Regierung jeweils deren politische Führung bestimmte.
Mit den heutigen Kriegen im Sudan und in Uganda wurde eine Straße, die sich durch das Turkana-County zieht, zu einer Nachschubroute für Waffen und Güter aus Mombasa. Dadurch wurde der Konflikt noch gewalttätiger. Wo fängt man in einer solch komplizierten und verzwickten Lage an mit Küchendiplomatie?
HÖNER: Wir haben zuallererst mit den Vorstehenden der Pokot und der Turkana verhandelt und das Calabash-Restaurant gebaut. Auch hier haben wir wieder ein Programm hauswirtschaftlicher Ausbildung gestartet. Hier mit einer Kamelzucht, Honigproduktion und Seidenraupen. In dem Zentrum dafür gab es aber auch Filmabende, Feiern und Sportfeste.
VITELLO: Und da kommen dann Pokot und Turkana einfach so zusammen oder wie muss ich mir das konkret vorstellen?
HÖNER: Das war am Anfang wahrlich nicht einfach. Die beiden Gruppen begegneten sich mit tiefstem Misstrauen. Wenn aber ein Pokot kocht und eine Turkana gibt die Getränke aus, dann kommen ein paar Leute. Und dann bietet man Veranstaltungen an, die man natürlich mit den führenden Personen der Turkana und der Pokot abspricht. Hier sind wir auf Zuspruch gestoßen, denn es gibt schon länger Friedensbemühungen von beiden Seiten.
Zum Beispiel haben wir bei den Sporttagen immer wieder zum Sackhüpfen eingeladen für die Kinder sowohl der Turkana-Schule als auch der Pokot-Schule. Sowas braucht viel Vorlauf. Am Anfang war es auch so, dass die Pokot um Schutz gebeten haben. Entgegen größerer innerer Widerstände haben wir dann beim lokalen Militärkommando angefragt und die haben uns einen Lastwagen voll Soldaten geschickt. Die waren letztendlich auch einfach da und haben genau wie alle anderen gegessen und getrunken.
VITELLO: Und die Pokot und Turkana?
HÖNER: Zuerst sitzen die einen auf der einen Seite und die anderen auf der anderen Seite. Dann gibt es was zu essen. Das Tolle ist, beide Gruppen haben dasselbe Lieblingsgericht. Das ist „nyama choma”, also gebratenes Fleisch – in diesem Fall Ziegenfleisch. Darum haben wir eine eigene Ziegenherde dort. Die Teller geben wir nur an einer Ausgabestelle aus, damit sich schon hier die Leute ein bisschen vermischen. Zumindest die Kinder, denn die haben sowieso keine Probleme miteinander. Alle müssen natürlich vorher ihre Waffen abgeben. Und dann gibt es eine Ansprache, um einen offiziellen Rahmen zu schaffen, und wir veranstalten ein paar Wettbewerbe.
VITELLO: Jetzt haben zwei Kriegsparteien nicht immer zufällig dasselbe Lieblingsgericht oder dieselben Traditionen. Inwiefern kann der Ansatz der Küchendiplomatie von Cuisine sans Frontières auch bei grundverschiedenen Konfliktparteien zu Frieden beitragen?
HÖNER: Egal, wo auf der Welt du dich umschaust: Es gibt wahrscheinlich keinen kleineren gemeinsamen Nenner für alle Menschen als Essen und Trinken. Ich meine, jeder muss essen und trinken. Das ist in jeder Kultur, jeder Volksgruppe, selbst wenn Kulinarik gerade stiefmütterlich behandelt wird, immer im Zentrum des täglichen Lebens. Wenn alles andere wirklich schief läuft, geht es nur noch darum: „Wie beschaffe ich das tägliche Essen und Trinken zum Überleben?“
VITELLO: Das ist doch auch ein gutes Argument, um die Bürgermeisterin oder den Stadtrat mit an Bord zu holen!
HÖNER: Genau! Fast jeder Mensch hat einen Bezug dazu. Das kann eine Lieblingsspeise sein oder eine Erinnerung an ein Gericht aus der Kindheit. Wenn wir Frieden fördern wollen, müssen wir nicht nur Flugblätter verteilen, sondern wir müssen an die Essenz, die Existenz eines jeden Menschen gehen. Und dann können wir uns auf Essen und Trinken konzentrieren, ohne den Anspruch zu haben, vor Ort Leuten zu erklären, was sie zu tun haben. Das Wichtigste ist, einfach für sie da zu sein und sie zu unterstützen. Dieser Akt der Güte, dieses gemeinsame Teilen, ist ein ungeheuer großer Schritt in Richtung Frieden.
Beitragsbild: Cuisine sans Frontières
„Denn diejenigen, die gewaltsames Vorgehen propagieren, brauchen einen Gegenpol.“
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